Tocilizumab bei Patienten mit systemischer juveniler idiopathischer Arthritis (sJIA, Morbus Still)
Die systemische juvenile idiopathische Arthritis (sJIA) wurde erstmals 1896 von George F. Still beschrieben und wird daher auch als Morbus Still oder Still-Syndrom bezeichnet. Diese Form des kindlichen Rheumas ist selten (Prävalenz von 1,8-6,3 pro 100.000 Kinder), verläuft aber häufig sehr schwer.
Die sJIA ist definiert als Arthritis in mindestens einem Gelenk, die mit hohem intermittierendem Fieber und Fieberspitzen (typischerweise abends) mindestens 15 Tag lang auftritt und von folgenden Manifestationen begleitet sein kann: Exantheme, Leber- und Milzvergrößerung, Polyserositis, Lymphadenopathien [1, 2].
Der Krankheitsverlauf kann sehr variabel sein: mono- oder polyzyklische Schübe gefolgt von Remissionen oder mit persitierender Arthritis, die in etwa bei der Hälfte der Patienten zu einer chronisch destruierenden Arthritis führt, die das Hauptproblem im Langzeitverlauf darstellt.
Die sJIA wird noch als Untergruppe der JIA gesehen. Die systemische juvenile idiopathische Arthritis weist jedoch deutlich von der JIA abweichende klinische und Laborcharakteristika auf. Zudem zeigt die sJIA keine Assoziation mit HLA-Genen oder mit Autoantikörpern und geht mit einer unkontrollierten Aktivierung von Phagozyten und einer Übersekretion von Interleukin-1 und -6 einher. Es wird daher diskutiert, dass die sJIA zu den autoinflammatorischen Erkrankungen zu zählen ist [3].
Tocilizumab (RoActemra®) ist im Juli 2011 von der Europäischen Kommission zur Behandlung von Kindern ab zwei Jahren mit systemischer juvenile idiopathische Arthritis zugelassen worden. Tocilizumab ist somit das erste Biologikum, das von der EU-Kommission für die Behandlung der sJIA zugelassen worden ist. Die Zulassung durch die amerikanische FDA ist schon im April 2011 erfolgt.
Anwendungsgebiete
Tocilizumab ist zur Behandlung von Patienten im Alter von 2 Jahren und älter mit aktiver systemischer juveniler idiopathischer Arthritis (sJIA) angezeigt, die nur unzureichend auf eine vorangegangene Behandlung mit nicht steroidalen Antiphlogistika (NSARs) und systemischen Corticosteroiden angesprochen haben. Tocilizumab kann (falls eine Methotrexat-Unverträglichkeit vorliegt oder eine Therapie mit Methotrexat unangemessen erscheint) als Monotherapie oder in Kombination mit Methotrexat verabreicht werden.
Dosierung, Art und Dauer der Anwendung
Kinder und Jugendliche: Patienten mit sJIA
Die Sicherheit und Wirksamkeit von Tocilizumab wurde bei Patienten unter 2 Jahren nicht untersucht. Es liegen keine Daten vor.
Die empfohlene Dosierung beträgt bei Patienten mit einem Mindestgewicht von 30 kg 8 mg/kg einmal alle 2 Wochen und bei Patienten, die weniger als 30 kg wiegen, 12 mg/kg einmal alle 2Wochen. Die Dosierung sollte bei jeder Verabreichung anhand des Körpergewichts des Patienten berechnet werden. Eine Änderung der Dosierung sollte nur bei einer andauernden Veränderung des Gewichts des Patienten erfolgen.
Vor der eigentlichen Gabe wird das Präparat mit einer sterilen, 0,9 %igen Kochsalzlösung (9 mg/ml Natriumchlorid) vom Arzt zunächst unter sterilen Bedingungen verdünnt. Nach Verdünnung wird Tocilizumab dann in der Regel als intravenöse Infusion über den Zeitraum von etwa einer Stunde verabreicht.
Unterbrechnung der Behandlung bei abnormalen Laborwerten
Bei abnormalen Laborwerten wird bei Patienten mit sJIA eine Unterbrechung der Behandlung mit Tocilizumab empfohlen, wie in den folgenden Tabellen näher erläutert wird.
Leberenzymabweichungen
Laborwert | Vorgehen |
---|---|
>1 bis 3× ULN* | Dosisanpassung des gleichzeitig verabreichten MTX, falls angemessen. Im Falle anhaltender Erhöhungen innerhalb dieser Bandbreite, Unterbrechung von Tocilizumab bis ALAT/ASAT sich normalisiert haben. |
>3×ULN bis 5×ULN | Dosisanpassung des gleichzeitig verabreichten MTX, falls angemessen Unterbrechung der Anwendung von Tocilizumab bis <3× ULN und Befolgen der oben stehenden Empfehlungen für Werte >1 bis 3× ULN |
>5× ULN | Absetzen von Tocilizumab |
*ULN= Upper Limit of Normal |
Niedrige absolute Anzahl neutrophiler Granulozyten (ANC = Absolute Neutrophil Count)
Laborwert, (Zellen×109/l) | Vorgehen |
---|---|
ANC >1 | Dosis beibehalten |
ANC 0,5 bis 1 | Unterbrechung der Anwendung von Tocilizumab. Wenn die ANC auf >1×109/l ansteigt, Wiederaufnahme der Anwendung von Tocilizumab |
ANC <0,5 | Absetzen von Tocilizumab |
Niedrige Thrombozytenanzahl
Laborwert (Zellen×103/Mikroliter) | Vorgehen |
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50 bis 100 | Dosisanpassung des gleichzeitig verabreichten MTX, falls angemessen Unterbrechung der Anwendung von Tocilizumab. Wenn die Thrombozytenanzahl auf >100×103/Mikroliter ansteigt, Wiederaufnahme der Anwendung von Tocilizumab |
<50 | Absetzen von Tocilizumab |
Falls angemessen, sollte die Dosierung von gleichzeitig verabreichtem Methotrexat und/oder anderer Arzneimittel modifiziert oder die Gabe abgebrochen und die Anwendung von Tocilizumab unterbrochen werden, bis die klinische Situation untersucht wurde.
Da es eine Vielzahl an Begleiterkrankungen gibt, die die Laborwerte bei Patienten mit sJIA beeinflussen können, muß die Entscheidung, Tocilizumab aufgrund abnormaler Laborwerte abzusetzen, stets auf der Grundlage einer medizinischen Untersuchung jedes einzelnen Patienten erfolgen.
Eine Reduktion der Tocilizumab-Dosis aufgrund abnormaler Laborwerte wurde bei Patienten mit sJIA nicht untersucht. Verfügbare Daten deuten darauf hin, dass innerhalb von 6 Wochen nach Beginn der Therapie mit Tocilizumab eine klinische Verbesserung beobachtet wird. Eine Weiterbehandlung sollte bei Patienten, bei denen es innerhalb dieses Zeitfensters nicht zu einer Verbesserung kommt, noch einmal sorgfältig abgewogen werden.
Die Behandlung sollte durch einen in der Diagnose und Behandlung der RA oder der sJIA erfahrenen Arzt begonnen werden.
Alle Patienten, die mit Tocilizumab behandelt werden, sollten den Patientenpass erhalten.
Besondere Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen für die Anwendung
Patienten mit sJIA
Das Makrophagenaktivierungssyndrom (MAS) ist eine schwerwiegende, lebensbedrohliche Erkrankung, die bei Patienten mit sJIA auftreten kann. Die Anwendung von Tocilizumab bei Patienten während einer aktiven MAS-Episode wurde in klinischen Studien nicht untersucht.
Klinische Wirksamkeit von Tocilizumab bei Patienten mit sJIA
Die Wirksamkeit von Tocilizumab bei der Behandlung der aktiven sJIA wurde in einer 12-wöchigen randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten 2-armigen Parallelgruppenstudie untersucht. Details finden Sie unter Klinische Studien: die TENDER Studie.
Sicherheit
Die Sicherheit von Tocilizumab bei der Behandlung der sJIA wurde bei 112 Patienten im Alter von 2 bis 17 Jahren untersucht. In der 12-wöchigen, doppelblinden, kontrollierten Phase erhielten 75 Patienten eine Behandlung mit Tocilizumab (8 mg/kg oder 12 mg/kg, je nach Körpergewicht). Nach 12 Wochen oder zum Zeitpunkt der Umstellung auf Tocilizumab, die aufgrund einer Verschlimmerung der Erkrankung notwendig war, wurden Patienten in der laufenden offenen Verlängerungsphase behandelt.
Im Allgemeinen waren die Nebenwirkungen bei Patienten mit sJIA vergleichbar mit denen, die bei Patienten mit RA beobachtet wurden [4, Abschnitt 4.8].
Infektionen
In der 12-wöchigen kontrollierten Phase lag die Anzahl aller Infektionen in der Tocilizumab-Gruppe bei 344,7 pro 100 Patientenjahren und bei 287,0 pro 100 Patientenjahren in der Placebo-Gruppe. In der laufenden offenen
Verlängerungsphase (Teil II), blieb die Gesamtrate der Infektionen vergleichbar bei 306,6 pro 100 Patientenjahren.
In der 12-wöchigen kontrollierten Phase lag die Anzahl der schwerwiegenden Infektionen in der Tocilizumab-Gruppe bei 11,5 pro 100 Patientenjahren. In der laufenden offenen Verlängerungsphase blieb die Gesamtrate schwerwiegender Infektionen nach einem Jahr stabil bei 11,3 pro 100 Patientenjahren.
Die berichteten schwerwiegenden Infektionen waren vergleichbar mit den bei Patienten mit RA beobachteten, aber zusätzlich traten noch Windpocken und Otitis media auf.
Infusionsreaktionen
Infusionsbedingte Reaktionen werden definiert als Ereignisse, die während oder innerhalb von 24 Stunden nach einer Infusion auftreten. In der 12-wöchigen kontrollierten Phase traten bei 4 % der Patienten aus der Tocilizumab-Gruppe während der Infusion Ereignisse auf. Ein Ereignis (Angioödem) wurde als schwerwiegend und lebensbedrohlich eingestuft und der Patient wurde von der Behandlung in der Studie ausgeschlossen.
In der 12-wöchigen kontrollierten Phase kam es bei 16 Prozent der Patienten in der Tocilizumab-Gruppe und 5,4 Prozent der Patienten in der Placebo-Gruppe innerhalb von 24 Stunden nach einer Infusion zu einem Ereignis. In der Tocilizumab-Gruppe traten unter anderem Ereignisse wie Exanthem, Urtikaria, Diarrhoe, epigastrische Beschwerden, Arthralgie und Kopfschmerzen auf. Eines dieser Ereignisse, die Urtikaria, wurde als schwerwiegend eingestuft.
Klinisch signifikante Überempfindlichkeitsreaktionen, die mit Tocilizumab verbunden waren und eine Unterbrechung der Behandlung erforderlich machten, wurden bei 1 von 112 Patienten (<1 %) beobachtet, die während der kontrollierten und während der offenen klinischen Studie mit Tocilizumab behandelt wurden.
Immunogenität
Alle 112 Patienten wurden zu Beginn der Behandlung auf Antikörper gegen Tocilizumab untersucht. Zwei Patienten entwickelten Anti-Tocilizumab-Antikörper und bei einem dieser Patienten kam es zu einer Überempfindlichkeitsreaktion, die zum Ausschluss aus der Studie führte. Die Häufigkeit der Bildung von Anti-Tocilizumab-Antikörpern kann aufgrund einer Interferenz von Tocilizumab mit dem Nachweisverfahren und der bei Kindern, im Vergleich zu Erwachsenen, beobachteten höheren Arzneimittelkonzentration unterschätzt werden.
Neutrophile Granulozyten
Während routinemäßiger Laboruntersuchungen sank in der 12-wöchigen kontrollierten Phase bei 7 Prozent der Patienten in der Tocilizumab-Gruppe die Anzahl neutrophiler Granulozyten auf unter 1×109/l. In der Placebo-Gruppe sank die Anzahl nicht.
In der laufenden offenen Verlängerungsphase kam es bei 15 Prozent der Patienten in der Tocilizumab-Gruppe zu einer Verringerung der Anzahl neutrophiler Granulozyten auf unter 1×109/l. Es gab keinen klaren Zusammenhang zwischen der Abnahme der neutrophilen Granulozyten auf unter 1×109/l und dem Auftreten schwerwiegender Infektionen.
Thrombozyten
Während routinemäßiger Laboruntersuchungen sank in der 12-wöchigen kontrollierten Phase bei 3 Prozent der Patienten in der Placebo-Gruppe und bei 1Proznet der Patienten in der Tocilizumab-Gruppe die Thrombozytenzahl auf ≤100×103/Mikroliter.
In der laufenden offenen Verlängerungsphase kam es bei 3 Prozent der Patienten in der Tocilizumab-Gruppe zu einer Verringerung der Thrombozytenzahl auf unter 100×103/Mikroliter, ohne dass damit in Zusammenhang stehende Blutungen auftraten.
Erhöhung der Lebertransaminasen
Während routinemäßiger Laboruntersuchungen traten in der 12-wöchigen kontrollierten Phase bei 5 Prozent der Patienten in der Tocilizumab-Gruppe Erhöhungen der ALAT und bei 3 Proznet der Patienten Erhöhungen der ASAT auf ≥3× ULN auf. In der Placebo-Gruppe kam es zu keiner Erhöhung. In der laufenden offenen Verlängerungsphase kam es bei 12 Prozent der Patienten in der Tocilizumab-Gruppe zu einer Erhöhung der ALAT und bei 4 Prozent zu einer Erhöhung der ASAT auf ≥3× ULN.
Immunglobulin G
Die IgG-Spiegel fallen während der Behandlung ab. Bei 15 Patienten kam es zu einem gewissen Zeitpunkt während der Studie zu einem Rückgang auf den unteren Normalwert.
Lipidwerte
Während routinemäßiger Laboruntersuchungen traten in der 12-wöchigen kontrollierten Phase bei 1,5 Prozent der Patienten in der Tocilizumab-Gruppe Erhöhungen des Gesamtcholesterins zwischen >1,5× ULN und 2× ULN auf. In der Placebo-Gruppe kam es zu keiner Erhöhung.
Erhöhungen der LDL zwischen >1,5× ULN und 2× ULN traten bei 1,9 Prozent der Patienten in der Tocilizumab-Gruppe auf. In der Placebo-Gruppe kam es zu keiner Erhöhung.
In der laufenden offenen Verlängerungsphase blieben die Art und Weise und die Häufigkeit von Erhöhungen der Lipidparameter vergleichbar mit den Daten aus der 12-wöchigen kontrollierten Phase.
Literatur
Petty RE, Southwood TR, Manners P, Baum J, Glass DN, Goldenberg J, He X, Maldonado-Cocco J, Orozco-Alcala J, Prieur AM, Suarez-Almazor ME, Woo P; International League of Associations for Rheumatology classification of juvenile idiopathic arthritis: second revision, Edmonton, 2001.
International League of Associations for Rheumatology.
J Rheumatol. 2004 Feb;31(2):390-2.Horneff G. Juvenile Arthritiden. Z Rheumatol 2010; 69: 719-737 Link
Linda Rossi-Semerano and Isabelle Koné-Paut. Is Still's Disease an Autoinflammatory Syndrome? Int J Inflam. 2012; 2012: 480373.
doi: 10.1155/2012/480373Fachinformation RoActemra®, Stand Juli 2011