Hunter´s Corner – der DocgBlog. Heute: Am Ende des Lateins
Es sieht aus wie die Gicht, aber es ist offensichtlich keine Gicht, denn die Gichttherapie funktioniert nicht. Eigentlich kein Problem für meinen Rheumatologenfreund, der immer noch eine Idee draufsetzen kann. Diesmal versagen aber alle Joker, einschließlich des Superjokers „Sarkoidose“ von Dr. House. Aber mein Rheumatologenfreund wäre nicht mein Rheumatologenfreund, wenn er nicht noch ein Ass im Ärmel hätte.
„Ich bin mit meinen Latein am Ende“, seufzte mein Rheumatologenfreund. Man merkte, daß es ihm schwer fiel, dies zuzugeben, schließlich hatte er mir gegenüber einmal behauptet, in der Schule in Latein der Klassenbeste gewesen zu sein.
„Wieso?“, wollte ich wissen.
„Ich habe keine Idee, was dieser Patient hat“, murmelte er.
„Wo ist das Problem?“, fragte ich.
„Eigentlich ist die Geschichte ganz einfach“, antwortete er. „Dieser Patient in den besten Mannesjahren hatte auf einmal einen geschwollenen und hochschmerzhaften Großzeh“.
„Also Gicht“, meinte ich.
„Mit dieser Spontandiagnose befindest Du Dich in bester Gesellschaft“, antwortete mein Rheumatologenfreund. „Dieser Meinung ist auch einer der international bekanntesten deutschen Rheumatologen, immerhin ein Lehrstuhlinhaber für Rheumatologie an einer renommierten deutschen Universität, sozusagen ein deutsches rheumatologisches Flaggschiff.“
„Und was hast Du dann damit zu tun?, wollte ich wissen.
„Eigentlich zunächst einmal gar nichts.“
„Und warum nervst Du mich dann mit dieser Geschichte?“
„Weil … , zunächst einmal wurde der Patient auf Gicht behandelt. Das funktionierte nur irgendwie nicht.“
„Compliance!!!“, meinte ich anmerken zu müssen. Von meinem Rheumatologenfreund hatte ich gelernt, daß die Therapie der Gicht oft daran scheitert, daß ein Patient nicht ganz so lebt und auch seine Tabletten nicht ganz so nimmt, wie es einem optimalen Therapieerfolg zuträglich wäre.
„Ein Beamter. Belesen, sorgfältig, folgsam. Wußte, worum es ging, verzichtete auf alles, wo auch nur makromolekular an Purine gedacht werden konnte, nahm sein Allopurinol, pünktlich, zuverlässig, regelmäßig, nur, die Schwellung im Zeh ging nicht zurück, die Blutsenkung blieb hoch, auch das CRP wollte nicht sinken. Das einzige, was sank, war die Harnsäure im Serum, und die Stimmung.“
„Ist das nicht ungewöhnlich, daß der erste Gichtanfall gleich wie eine chronische Gicht aussieht, und daß die Blutsenkung und das CRP nicht heruntergehen?“. Das machte mich irgendwie stutzig.
„Der Patient hatte auch diesen Eindruck, daß da vielleicht irgendetwas nicht zusammenpassen könnte.“
„Und?“
„Er entschloß sich, einen anderen Professor aufzusuchen.“
„Und?“
„Dieser Professor bestätigte die Diagnose der Gicht.“
„Es heißt doch, ein Professor schreibt vom anderen Professor ab“, warf ich ein.
„Nein, das kann man so nicht sagen, vielleicht, wenn überhaupt, war das früher einmal so. Die Professoren heute schreiben schon ihr eigenes Ding“. Mein Rheumatologenfreund nahm es fast persönlich, daß ich an der Ernsthaftigkeit und Ehrenhaftigkeit der jungen deutschen Rheumatologie zweifelte.
„Und warum kommt er dann zu derselben Diagnose, auch wenn diese doch ganz offensichtlich nicht funktioniert?“
„Weil es auf den ersten Blick aussieht wie eine Gicht, und weil er nichts anderes gefunden hat, was die Symptome erklären könnte.“
„Was heißt, er hat nichts anderes gefunden?“
„Das ist eine große Klinik, an der dieser Professor Chefarzt ist, und sie ist auch eine sehr bekannte und renommierte rheumatologische Klinik. Der Beamte hatte sich vorher schlau gemacht und nach der Universitätsklinik eine wirklich bedeutende Adresse aufgesucht. Sie haben dort alle Register gezogen, noch intensiver Blutuntersuchungen durchgeführt, umfangreich geröngt, einen ausführlichen Arztbrief geschrieben: Man kann sagen, sie haben an vieles gedacht, aber keine überzeugenden Befunde für eine andere Erkrankung erheben können. Zusammengefaßt: Eine Gichtdiagnose auf einem hohen Niveau.“
„Ich verstehe immer noch nicht, was Du damit zu tun hast“.
„Eigentlich verstehe ich es auch nicht“.
„Und?“
„Nur, die Fortführung der Gichttherapie, nun auf einem hohen Niveau, funktionierte immer noch nicht“.
„Ich ahne, was nun passiert ist.“
„Du kaufst zwar nicht im Media-Markt, aber blöd bist Du auch nicht“.
Über diese Bemerkung meines Rheumatologenfreundes musste ich mich innerlich doch etwas freuen.
„Der Beamte hat gegoogelt, und danach hattest Du die A…karte?“
„Wollen wir es die große Ehre nennen.“
„Ich habe immer noch nicht verstanden, wo das Problem ist. Patient kommt zu Dir, Dein Genius bekommt Flügel, und dann sind die Dinge endlich klar.“
„Dieser Patient war beispielhaft. Hatte alle Unterlagen dabei, vom rheumatologischen Flaggschiff, die ergänzenden Befunde vom Klinikprofessor, ich habe ihn noch einmal ausführlich befragt, ihn untersucht. Klar war eines: Eine Gicht hatte er nicht. Das dürftest Du mittlerweile auch schon vermutet haben.“
„Natürlich.“
„Aber: Wenn nicht Gicht, was dann?“
„Pseudoguttöse Attacke bei Psoriasis?“. Ab und zu sollte ein rheumatologischer Landseher auch einmal durchblicken lassen, was er drauf hat.
„Da wären die rheumatologsichen Flaggschiffe schon meilenweit vor Dir drauf gekommen“, warf ich ein. „Und ich allemal. Das ist doch Propädeutik im ersten klinischen Semester. Aber der Patient hatte keine Schuppenflechte.“
„6% aller Patienten mit Psoriasis-Arthritis haben keine Psoriasis an der Haut“, meinte ich nun doch zu meiner Ehrenrettung bemerken zu müssen.
„Psoriasis-Arthritis ist ja keine ganz abwegige Diagnose, habe ich natürlich genau wie Du dran gedacht, aber nach der Untersuchung und nach den mitgebrachten Unterlagen gab es überhaupt nichts, woran ich das hätte festmachen können, und ich habe mir wirklich jeden einzelnen Fingernagel und Zehennagel und den Bauchnabel und die Analfalte und den Kopf und die Ohren und den Gehörgang sowieso angeschaut.“
„Hast Du denn schon die Joker gezogen?“, wollte ich wissen. „Borreliose? Chlamydien? Yersinien? »
« Was denkst Du denn ? »
„Und den Super-Joker? Sarkoidose?“
„Du hast anscheinend zu viel Dr. House geguckt“. Mein Rheumatologenfreund konnte eine gewisse Ironie nicht zurückhalten.
„Aber so kann die Geschichte doch nicht aufhören.“ Irgendwie war diese Diskussion doch sehr unbefriedigend. „Was für ein Ass hast Du denn aus dem Ärmel gezogen?“
„Nicht wirklich ein Ass. Eher ganz schlichtes Handwerk.“
„Was worin bestünde?“
„Ich habe den Patienten gebeten, mir alle Originalunterlagen mitzubringen, insbesondere auch alle Original-Röntgenbilder. Bislang hatte ich die Arztbriefe, zum Teil auch die Original-Laborbefunde, aber kein einziges Röntgenbild, nur die schriftlichen Befunde“.
„Und das soll ein Ass im Ärmel sein?“
„Bingo!“
„Wieso?“
„Fast hätte ich es übersehen. Dann der diagnostische Elfmeter: Ein klassischer Parasyndesmophyt an Brustwirbelkörper 11, ganz am Rande der Röntgenaufnahme der Lendenwirbelsäule gelegen und eigentlich außerhalb des Röntgenauftrages, eine LWS zu röntgen. Ein lehrbuchreifer Befund.“
„Eine Spondyloarthritis mit pseudoguttöser Attacke. Ich werd verrückt. Da war ich aber mit meiner Psoriasis doch schon haarscharf dran. Das erklärt eigentlich alles, warum die harnsäuresenkende Therapie nicht gewirkt hat, und warum die ganze Zeit die Blutsenkung und das CRP erhöht waren.“
„Im Prinzip ja“.
„Und warum ist das rheumatologische Flaggschiff nicht auf diese Diagnose gekommen?“
„So weit ich die Dinge aus der Ferne beurteilen kann, hat es nicht nach Rückenschmerzen gefragt und in dieser Richtung auch keine weitere Diagnostik unternommen.“
„Und der Klinikchef?“
„Scheint nach Rückenschmerzen gefragt zu haben, hat aber möglicherweise oder sehr wahrscheinlich die Röntgenbilder nicht selber gesehen. Oder sie gesehen, aber nicht bis zum äußersten Rand geschaut. Ich habe Dir doch gesagt, beinahe hätte auch ich selber den Befund übersehen.“
„Ich glaube, ich möchte anfangen, Latein zu lernen“.
„Warum?“
„Du hast mir einmal erklärt, daß Latein die Akribie und die analytischen Fähigkeiten schult, und das wäre für meinen Job schon sehr wichtig“.
Ich hoffe, Ihr seht das auch so.
Bis zum nächsten Mittwoch,
Euer rheumatologischer Landseher