Hunter´s Corner – der DocgBlog. Heute: Im Glashaus
Euren Kommentaren zu meinem ersten Beitrag vermeine ich entnehmen zu können, daß ich den DocgBlog fortsetzen soll. Ich weiß allerdings nicht, ob das überhaupt gut ist, denn die Rheumawelt ist nicht nur Realsatire. Sobald man den sicheren Boden von politischen Sonntagsreden verlässt und in das rheumatologische Alltagsleben eintaucht, tun sich dunkle Ecken und tiefe Abgründe auf, von denen ich nicht weiß, ob ich sie Euch überhaupt zumuten darf. Ich brauche deshalb Eure Rückmeldung, wo sich die Gnade des Schweigens über die Wahrheit legen muß, weil das Unsägliche unerträglich wird.
„Mit Ihrer Erkrankung können Sie sich eine Schwangerschaft von der Backe wischen“ – über diese Reaktion eines Rheumatologen auf die Bitte einer jungen RA-Patientin zu einem Gespräch über ihren Kinderwunsch reden mein Rheumatologenfreund und ich nun schon seit einer Woche jeden Morgen.
„Ich kann es bis heute nicht glauben, daß ein Arzt einer Patientin eine solche Antwort gibt“, meldet mein Rheumatologenfreund immer wieder seine Zweifel an. „Andererseits gibt es überhaupt keinen Grund, warum sie diese Aussage erfunden haben sollte“.
„Der Satz wird so gesagt worden sein“, gab ich zu bedenken. „Aus einem schlechten Film kann sie es nicht haben, denn kein Film ist so schlecht, daß er auf einem solchen Niveau spielt. Also muß dieser Spruch aus dem wirklichen Leben stammen“.
„Aussage, Satz, Spruch“ warf mein Rheumatologenfreund ein, „wertfreie deutsche Worte, die sich weigern, einer solchen unsäglichen Aneinanderreihung von Silben als Bezeichnung zu dienen“.
„Mir fällt nichts anderes dazu ein“, meinte ich. „Spontan kamen mir zunächst einige abqualifizierende Kommentare in den Sinn, aber ich finde sie alle zu oberflächlich, um das zu charakterisieren, was da in diesem Augenblick in dieser Praxis abgegangen ist“, begründete ich meine Sprachlosigkeit.
„Wir alle in der Praxis waren sprachlos“, pflichtete mein Rheumatologenfreund bei. „Irgendwie konnte ich in diesem Augenblick nicht darauf warten, es am nächsten Morgen mit Dir bei unserer Runde zu besprechen, ich musste sofort mit anderen darüber reden“, entschuldigte er sich gleich danach. „Ich hätte mich sonst nicht auf die nächsten Patientinnen und Patienten konzentrieren können“.
„Kenne ich diesen Rheumatologen?“, wollte ich wissen.
„Nein, ich glaube nicht. Ich selber kenne ihn auch nicht gut, kann wenig über ihn sagen. Wenn ich ihn richtig vor mein geistiges Auge bekomme, ist er nicht jung, nicht alt, nicht unerfahren, aber auch keine Koryphäe, nicht namenlos, aber auch nicht namhaft, ich denke, rheumatologisches Mittelmaß.“
„Ein internistischer Rheumatologe oder ein orthopädischer Rheumatologe“, wollte ich wissen.
„Was spielt das denn in unserem Zusammenhang für eine Rolle?“, fragte mein Rheumatologenfreund zurück. Dabei wirkte er etwas unwirsch.
„Ein internistischer Rheumatologe“, folgte als knappe Antwort.
„Warum ein solches Verbalexkrement eines nicht jungen, nicht alten, nicht namenlosen, nicht unerfahrenen internistischen Mittelmaßrheumatologen zu einer Patientin, die mit und trotz einer rheumatoiden Arthritis den schlichten Wunsch einer jungen Frau nach einem Kind anspricht, das dazu in einer Zeit, in der die Rheumatologie von Remission redet? Hat sie ihm etwas getan?“
„Remission“, mein Rheumatologenfreund atmete tief durch, man spürte, daß er sich sehr zurücknehmen musste.
„Was ich Dir überhaupt noch gar nicht erzählt habe: Diese 27-jährige Patientin leidet seit etwas mehr als zwei Jahren an einer rheumatoiden Arthritis. Bekommt seit Diagnosestellung MTX, was gut ist, im Augenblick 25 mg pro Woche, was viel ist, dazu fast von Anfang an eine Kombination mit Sulfasalazin, was nicht verkehrt ist, denn die Erkrankung war die ganze Zeit hoch aktiv. Jetzt kommt aber etwas, was ich ebenfalls bis heute nicht verstanden habe: Seit ca. einem Jahr wird sie mit 50 mg Prednisolon behandelt, seit 6 Wochen mit 40 mg, mit allen Folgen, die eine so hohe Cortisondosis mit sich bringt.“
„Ich bin nur ein Landseer“, sagte ich, „aber was ich so von Dir gelernt habe und auch immer wieder bei uns in rheuma-online lese: Ist denn das nicht eine viel zu hohe Cortisondosis, vor allem über einen viel zu langen Zeitraum in einer solch hohen Dosis?“.
„Und wir reden über eine der deutschen Sprache mächtigen, mit mindestens durchschnittlich begabtem Verstand ausgestattete Patientin in regelmäßiger internistisch-rheumatologischer Mitbetreuung, hier bei uns in Deutschland? Oder kommt die Patientin aus Westfalen?“
„Warum fragst Du nach Westfalen?“
„Weil die Rheumatologen dort, wie ich gehört habe, eine große Zurückhaltung mit der Verschreibung von Biologika haben, wegen Angst vor Regression oder Regressen oder wie das heißt.“
„Es gibt eine Studie aus dem Deutschen Rheumaforschungszentrum in Berlin“, antwortete mein Rheumatologenfreund etwas unvermittelt, „wonach es keine wirklichen Unterschiede zwischen einer hausärztlichen und fachärztlich-internistisch-rheumatologischen Betreuung von Patienten mit rheumatoider Arthritis geben soll“. „Ich habe das nie ganz glauben können, zum einen nicht, weil international die Datenlage ganz anders ist, und zum anderen, weil die Erfahrungen aus der eigenen Praxis ebenfalls in eine ganz andere Richtung deuten“. „Aber wenn ich mir dann einen solchen Krankheits- und Behandlungsverlauf anschaue, komme ich ins Grübeln, ob die Berliner Forscher nicht doch recht haben.“
„Jetzt siehst Du sehr bedrückt aus“. So kenne ich meinen Rheumatologenfreund überhaupt nicht. „Und sehr ernst“.
„Was mich nun schon seit einer Woche umtreibt, denken und nachdenken und immer wieder denken und nachdenken läßt und wofür ich bislang keine vernünftige Erklärung habe“, sinnierte mein Rheumatologenfreund, „Warum?“ „Was ist da los in Deutschland, im deutschen Gesundheitssystem und in meiner geliebten Rheumatologie?“
„Bedeutet das, daß Du gerade versuchst, diese Geschichte in eine Geschichte aus der Täterperspektive umzufunktionieren? Zu viele Talkshows mit Stefan Aust gesehen? Vielleicht kommt zum Schluß noch heraus, daß die Patientin an all dem schuld ist, weil dem Arzt durch das System der Patient zum Feind wird?“
„Was mich wirklich bewegt, ist die Frage, warum Ärzte, die im Grunde ihres Herzens gut sind, eine vermutlich halbwegs anständige mitteleuropäische Sozialisation genossen haben dürften, wahrscheinlich abends ihren Kindern eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen oder sie mit einem Lied in den Schlaf singen, Biodiesel tanken und Produkte in Eine-Welt-Läden kaufen – warum es eine solche Reaktion geben kann.“
„Aus meiner Hundeperspektive kenne ich da nur das Beispiel, daß der lammfrommste Golden Retriever zubeißt, wenn er sich im liebgemeinten Spiel mit dem jüngsten Sproß der Familie so in die Ecke gedrängt fühlt, daß er keine Möglichkeit des Entkommens sieht“.
„Du meinst eine Art Angstbeißen?, griff mein Rheumatologenfreund diesen Gedanken auf. „Vielleicht auch eine Art Übersprungshandlung? Wobei das noch etwas anderes ist. Könnte aber auch eine Rolle spielen.“
„Bestimmt viel Unsicherheit. Zusätzlich vermutlich auch Überforderung. Aber kann man das entschuldigen? Schließlich hat er sich diesen Beruf doch selber ausgesucht!“
„Was geschieht denn nun eigentlich weiter?“. Irgendwie hatte ich das Gefühl, es sei nun der Augenblick für Konsequenzen gekommen. „Muß man nicht eigentlich die Ärztekammer einschalten? Ein solches Verhalten ist doch unärztlich! Gutachterkommission? Kunstfehler? Ein Jahr lang 50 mg Cortison und nicht die Spur einer Überlegung, einen TNF-alpha-Blocker einzusetzen?“
„Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen“ antwortete mein Rheumatologenfreund.
„Wir alle haben sehr lange mit der Patientin gesprochen und versucht, Ihr eine neue Perspektive zu geben. Neue, wirksame, nebenwirkungsärmere, hoffentlich sogar weitgehend nebenwirkungsfreie Therapie, im nächsten Schritt dann der Plan, sie auf dem Weg zu einer Schwangerschaft und einem eigenen Kind zu unterstützen. Versprechen können wir nichts, aber wir werden unser Bestes geben“.
Rüden können es nicht gut ertragen, wenn sie Frauen weinen sehen. Ich erzähle deshalb diese Geschichte nicht weiter.
Bis zum nächsten Mittwoch!
Euer Hunter – der rheumatologische Landseher