Einsatz von TNF-alpha-Blockern beim akuten Bandscheibenvorfall
Zunehmend kommt es bei TIZ zu Anfragen zum Einsatz von TNF-alpha-hemmenden Substanzen bei der Therapie von Bandscheibenvorfällen, nachdem diese Methode in einzelnen orthopädischen Praxen propagiert wird und sich in der Laienpresse vermehrt Berichte zu diesem Thema finden. Um eine wissenschaftlich fundierte Stellungnahme zu ermöglichen, hat unser TIZ-Beiratsmitglied Dr. Hübner aus Ratingen eine Literatur-Recherche zu dieser Fragestellung durchgeführt.
Wissenschaftlich fundierte und ausreichend aussagekräftige Untersuchungen zur Wirksamkeit und zum Nutzen von TNF-alpha-Hemmern wie Etanercept (Enbrel) oder Infliximab (Remicade) zur Anwendung bei einem akuten Bandscheibenvorfall beim Menschen gibt es zur Zeit noch nicht, lediglich kleinere Pilotstudien und kasuistische Mitteilungen aus der Anwendung in Einzelfällen.
Richtungsweisende tierexperimentelle Daten wurden von Olmarker und Larsson (1998) sowie von Olmarker und Rydevik (2001) veröffentlicht.
Danach nimmt man an, dass entzündungsvermittelnde Substanzen, insbesondere TNF-alpha, aus dem Gallertkern der Bandscheibe wesentlich zur Nervenschädigung im Rahmen eines Bandscheibenvorfalles beitragen.
Bei den Tierexperimenten wurde bei Schweinen die Situation bei einem Bandscheibenvorfall experimentell nachvollzogen, indem den Schweinen Bandscheibengewebe entnommen und operativ so an die Rückenmarksnerven eingepflanzt wurde, daß es zu einem Kontakt zwischen den Geweben kam.
Wurden dabei die Schweine gleichzeitig mit Infliximab (Remicade) oder Etanercept (Enbrel) behandelt, erlitten sie einen geringeren funktionellen und strukturellen Schaden dieser Nerven als die mit Kochsalzlösung oder Enoxaparin (spezielles Heparin zur Vorbeugung von Thrombosen) behandelten.
Die Autoren schlossen daraus, dass TNF-alpha wesentlich zur Nervenwurzelschädigung beim Bandscheibenvorfall beiträgt.
Jaro Karppinnen und Mitarbeiter veröffentlichten dann in einer aktuellen Arbeit (Karpinnen et al. 2003) eine Studie über 10 Patienten mit Bandscheibenvorfall und ausgeprägten ausstrahlenden „Ischiasschmerzen“, die eine Infusion mit Infliximab (Remicade 3mg/kg Körpergewicht) über 2 Stunden erhielten.
Diese wurden mit einer sogenannten historischen Kontrollgruppe verglichen, d.h. mit Patienten, die zu einer anderen Zeit in einer anderen Untersuchung bei gleicher Erkrankung eine Kochsalzlösung an die Nervenwurzeln injiziert bekommen hatten.
Bereits nach einer Stunde waren in beiden Gruppen die Schmerzen um 50% reduziert.
Nach 2 Wochen waren 6 von 10 Patienten (60%) der Infliximab – Gruppe schmerzfrei, aber nur 16% der Kontrollgruppe. Nach 3 Monaten betrugen die Zahlen 90% gegenüber 46%. Nach 1 Monat war kein Patient der Infliximab – Gruppe, aber noch 38% der Patienten aus der Kontrollgruppe arbeitsunfähig.
Im Juni 2003 stellten Genevay und Mitarbeiter auf dem EULAR-Kongress in Lissabon eine Studie vor, in der Patienten mit Bandscheibenvorfall und ausgeprägten Schmerzen entweder mit Etanercept (Enbrel) oder mit einer hochdosierten Kortisoninfusion behandelt wurden (Genevay et al. 2003).
5 Patienten erhielten im Abstand von jeweils 3 Tagen eine Injektion Etanercept in einer Dosis von 25 mg subkutan, d.h. unter die Haut. Als Vergleichsgruppe dienten 7 Patienten, denen jeweils im gleichem Zeitintervall eine hochdosierte Kortisoninfusion verabreicht wurde.
Während nach 10 Tagen beide Behandlungen eine deutliche Reduktion der Schmerzen und Besserung der Funktion ergaben, profitierten die Enbrel – Patienten noch nach 6 Wochen von der Therapie.
Ebenfalls ganz aktuell ist eine Veröffentlichung in der Schweizer Medizinischen Wochenschrift, in der über die Ergebnisse einer Etanercept-Therapie von Patienten mit chronischen Schmerzen durch symptomatische Bandscheibenschäden berichtet wird (Tobinick und Britschgi-Davoodifar 2003).
Bei den meisten dieser Patienten waren vorherige Kortisoninjektionen an die Rückenmarkshaut ohne nachhaltigen Effekt.
Es wurden nun meist einzelne, teils wiederholte Etanercept – Injektionen unter die Haut nahe des symptomatischen Wirbelsäulenabschnittes gesetzt. Teils dramatische Besserungen innerhalb weniger Minuten nach Injektion werden in diesem Artikel bei ausgewählten Patienten beschrieben.
Die genannten Autoren erachteten ihre Ergebnisse als ermutigend für weitere Untersuchungen.
Insgesamt sprechen einige tierexperimentelle Untersuchungen dafür, daß TNF-alpha bei der bandscheibenbedingten Schädigung der Nervenwurzel und bei der Vermittlung des bandscheibenbedingten Nervenschmerzes („neuropathischer Schmerz“) eine wesentliche, möglicherweise sogar die zentrale Rolle spielt.
Die Überlegung, den akuten Bandscheibenvorfall mit TNF-alpha-blockierenden Substanzen zu behandeln, ist damit ein faszinierendes Konstrukt, für dessen Wirksamkeit es auch entsprechende Hinweise aus tierexperimentellen Untersuchungen und aus allerersten, noch sehr vorläufigen Erfahrungen bei der Anwendung dieser Substanzen beim Menschen gibt.
Die Daten aus diesen Studien sind allerdings derzeit noch so wenig abgesichert, daß es gegenwärtig nicht vertreten, geschweige denn empfohlen werden kann, diese Therapie routinemäßig beim Bandscheibenvorfall einzusetzen.
Vielmehr kommt Jaro Karpinnen, auf den in den Berichten der Laienpresse Bezug genommen wird, zu dem Ergebnis, daß diese Therapie außerhalb von Studien nicht angewendet werden sollte:
„Bevor diese Ergebnisse nicht in randomisierten, kontrollierten Studien bestätigt sind und die Langzeit – Sicherheit nicht belegt ist, empfehlen die Autoren nicht den Einsatz einer anti – TNF alpha Therapie bei symptomatischem Bandscheibenvorfall außerhalb von Studien.“
(„Before these results are confirmed in a randomized controlled trial and long-term safety is documented, the authors do not recommend the use of anti-TNF-alpha therapy for sciatica outside a trial setting”)
(Karppinnen et al. 2003)
Autor:
Dr. med. Georg Hübner
Leitender Oberarzt der Rheumatologischen Klinik,
Evangelisches Fachkrankenhaus Ratingen
Rosenstr. 2
40882 Ratingen
Eingang: : 2. Oktober 2003
online 01. November 2003
Keywords: Enbrel, Etanercept, Infliximab, Remicade, Bandscheibenvorfall, sciatica
Literatur:
Olmarker K, Larsson K.
Department of Orthopaedics, Sahlgrenska University Hospital, Goteborg University, Sweden.
Tumor necrosis factor alpha and nucleus-pulposus-induced nerve root injury.
Spine. 1998 Dec 1;23(23):2538-44.
Olmarker K, Rydevik B.
Department of Orthopaedics, Goteborg University, Gothenburg, Sweden.
Selective inhibition of tumor necrosis factor-alpha prevents nucleus pulposus-induced thrombus formation, intraneural edema, and reduction of nerve conduction velocity: possible implications for future pharmacologic treatment strategies of sciatica.
Spine. 2001 Apr 15;26(8):863-9.
Karppinen J, Korhonen T, Malmivaara A, Paimela L, Kyllonen E, Lindgren KA, Rantanen P, Tervonen O, Niinimaki J, Seitsalo S, Hurri H.
*Department of Physical Medicine and Rehabilitation, Oulu University Hospital, Oulu, the dagger Finnish Institute of Occupational Health, Helsinki.
Tumor Necrosis Factor-alpha Monoclonal Antibody, Infliximab, Used to Manage Severe Sciatica.
Spine. 2003 Apr 15;28(8):750-3.
Genevay S, Stingelin S, Gaby C
Division of Rheumatology, University Hospital Geneva, Switzerland
Efficacy of Etanercept in the Treatment of Acute Sciatica.
Annual European Congress of Rheumatology EULAR 2003, Lissabon, 18-21 June
Ann Rheum Dis 62 (Suppl 1);OP0018
Tobinick EL, Britschgi-Davoodifar S
Institute for Neurological Research, Los Angeles, California
Perispinal TNF-alpha inhibition for discogenic pain.
SWISS MED WKLY 2003;133:170–177