Editorial vom Oktober 2004
VIOXX®, die weltweite Rücknahme vom Markt und die „freiwillige“ Vernichtung von 27 Mrd. US-Dollar Börsenwert: Was dürfen wir glauben? Und was ist es, was wir nicht wissen? Ein Kommentar zum plötzlichen und unerwarteten Ableben von VIOXX®, dem ehemaligen Shooting-Star und Blockbuster im hochumkämpften Pharmamarkt von Arthritis, Arthrose und Schmerz.
Raymond Gilmartin: Diesen Mann möchte ich einmal kennenlernen. Nicht, weil er mit der Entscheidung als Präsident und Chief Executive Officer von Merck & Co., Inc., Whitehouse Station, NJ, USA, VIOXX® weltweit vom Markt zu nehmen, innerhalb weniger Stunden 27 Mrd. US-$ (in Zahlen: 27.000.000.000 US-$) und damit mehr als ein Viertel des Börsenwertes seines Unternehmens vernichtet hat.
Nein: Ich möchte ihm gegenübersitzen, ihm in die Augen schauen und aus seinem eigenen Mund die Worte hören, mit denen er diese gewaltige Entscheidung begründet hat. Er hat es nämlich getan, weil „diese am besten dem Interesse des Patienten entspricht“. Also für das Wohl der Patienten. Und „freiwillig“, obwohl es nach seiner Meinung möglich gewesen wäre, VIOXX® mit einer geänderten Fach- bzw. Gebrauchsinformation auf dem Markt zu belassen.
Verzicht auf einen weltweiten jährlichen VIOXX®-Umsatz von 2.5 Mrd. US-$ und auf einen Börsenwert von 27. Mrd. US$. Das ist deutlich mehr als die gesamte Marktkapitalisierung des größten börsennotierten deutschen Pharmakonzerns Bayer. Freiwillig und, weil dies am besten dem Interesse des Patienten entspricht.
So etwas gibt es selten in unserer heutigen Zeit, wo die Börse die Ethik vorgibt und der Umstand, daß börsennotierte Unternehmen alle kursrelevanten Ereignisse sofort veröffentlichen müssen, dazu führt, daß die Wallstreet über die Rücknahme eines Medikamentes eher informiert ist als die behandelnden Ärzte und ihre Patienten.
Freiwillig hat der Präsident VIOXX® vom Markt genommen, und, weil MSD als der zweitgrößte Pharmakonzern der USA aus Verantwortung für kranke Menschen lieber ein Riesengeschäft nun dem verhaßten Erzkonkurrenten Pfizer, der Nummer 1 in den USA, überlässt, anstatt den Beipackzettel um die Information zu ergänzen, daß unter der Langzeittherapie von Vioxx bei Patienten mit Dickdarmtumoren das Risiko für das Auftreten von Herzinfarkten und Schlaganfällen zwar insgesamt sehr gering, aber statistisch signifikant erhöht ist.
Ich glaube seit dem 30. September 2004 wieder an das Gute im Menschen.
Dabei war ich gerade dabei, mir erste, dafür aber ernsthafte Gedanken um die Glaubwürdigkeit von börsennotierten Unternehmen im allgemeinen, von internationalen Pharmagiganten im speziellen und von MSD im ganz besonderen zu machen.
Erinnern wir uns:
VIOXX® kam in den USA 1999 auf den Markt und wurde in der Folge in mehr als 80 Ländern zugelassen.
Im März 2000 wurden die Ergebnisse der sogenannten VIGOR-Studie vorgestellt (VIOXX GI Outcomes Research ). Danach wurde bei Patienten, die wegen einer rheumatoiden Arthritis über einen Zeitraum von bis zu einem Jahr mit täglich 2 x 25 mg Vioxx behandelt worden waren, gegenüber der Behandlung mit dem im Vergleich eingesetzten Entzündungshemmer Naproxen ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko in der Vioxx-Gruppe beobachtet, d.h. eine erhöhte Rate an Herzinfarkten und Schlaganfällen.
Da in dieser Studie aber keine Vergleichsgruppe mit Placebo vorgesehen war, konnte nicht entschieden werden, ob der Unterschied in den beiden Studiengruppen durch ein erhöhtes Risiko in der Vioxx-Gruppe oder ein verringertes Risiko in der Naproxen-Gruppe zustande gekommen war. Für die zweite Interpretation sprach die bekannte Tatsache, daß Naproxen eine starke aspirin-artige Wirkung besitzt und deshalb durch diese Substanzeigenschaft ein Schutz vor Herzinfarkten und Schlaganfällen zu erwarten war.
MSD führte in der Folge eine Analyse aller Daten aus allen bisherigen, placebo-kontrollierten Studien zu Vioxx durch und kam zu dem Ergebnis, daß nach diesen Daten das Risiko für Schlaganfälle und Herzinfarkte unter der Einnahme von Vioxx nicht erhöht sei.
In den wissenschaftlichen Zeitschriften und auf Kongressen wuchs derweilen die Diskussion um die kardiovaskuläre Sicherheit von Vioxx. Die Auseinandersetzung zwischen MSD und den Wissenschaftlern nahm dabei an Schärfe zu und gipfelte in einer Klage des milliardenschweren Unternehmens gegen den spanischen Wissenschaftler Professor Joan-Ramon Laporte, der MSD vorgeworfen hatte, in der VIGOR-Studie die kardiovaskulären Nebenwirkungen von Rofecoxib (Vioxx) herunter zu spielen.
Professor Laporte hatte in der Arzneimittelzeitung „Butletti Groc“ in der Septemberausgabe 2002 einen Artikel mit der provokativen Überschrift veröffentlicht: „Die sogenannten Vorteile von Celecoxib und Rofecoxib: Ein wissenschaftlicher Betrug“. Der Herausgeber dieser Zeitung - das Catalanische Institut für Pharmakologie – wurde daraufhin ebenso wie Laporte von MSD verklagt.
In seinem Artikel hatte Laporte Ungereimtheiten bezüglich der Durchführung und Datenauswertung in der VIGOR-Studie (Studie zu Rofecoxib, MSD) und in der CLASS-Studie (Studie zu Celecoxib, Pfizer) aufgegriffen. Die beiden Studien wurden in den hochrangigen wissenschaftlichen Magazinen „The Lancet“ und dem British Medical Journal veröffentlicht.
Laporte bezichtigte die Firmen, daß wirtschaftliche Interessen zu einer Manipulation der Ergebnisse geführt hätten und daß es ethische Grenzüberschreitungen im Studiendesign und in der Auswertung gäbe. MSD bezeichnete diese Anschuldigungen als falsch und diffamierend.
Das Gericht sprach am 22. Januar 2004 sowohl Laporte als auch das Catalanische Institut für Pharmakologie frei. Richterin Viktoria Salcedo Ruiz verkündete, dass sich MSD – laut Lancet – des kardiovaskulären Risikos von Rofecoxib durchaus bewußt war, was zu einer bestimmten Patientenauswahl in der Studie geführt hätte. Im Urteil wird ebenfalls darauf hingewiesen, daß die amerikanische Zulassungsbehörde FDA die Firma davor gewarnt hat, im Zuge der Werbekampagne das kardiovaskuläre Risiko zu schmälern.
MSD hatte im Zusammenhang mit diesem Verfahren eingeräumt, daß hinsichtlich des Studiendesigns, der Studiendurchführung und der Berichterstattung der VIGOR-Studie einige Ungenauigkeiten bestünden. MSD habe jedoch ebenso wie die wissenschaftliche Leitung und das Komitee zur Überwachung der kardiovaskulären Ereignisse dem Herausgeber der Originalpublikation (immerhin handelt es sich bei diesem um den Lancet, das wohl renommierteste medizinische Journal) ein Begleitschreiben bezüglich dieser Fehler zugesandt. Leider sei dieses Begleitschreiben nicht veröffentlicht worden (mir schießen die Tränen in die Augen. Wie kann denn beim Lancet so eine Nachlässigkeit passieren).
Allerdings hat es MSD nun in der Folge selber auch nicht für nötig gehalten, uns Ärzte über die eingestandenen „Ungenauigkeiten“ in der Publikation der VIGOR-Studie zu informieren und uns die genauen, korrekten Informationen zukommen zu lassen. Im Gegenteil wurden wissenschaftliche Unterlagen für Fortbildungsvorträge zur Verfügung gestellt, in denen die oben genannte nachfolgende Auswertung der placebo-kontrollierten Studien präsentiert und in der Tat das kardiovaskuläre Risiko von Vioxx negiert wurde („kein Unterschied zwischen Rofecoxib = Vioxx und Placebo“, was im Klartext bedeutet: Kein kardiovaskuläres Risiko von Vioxx).
Wir haben über diesen sehr unschönen Vorgang (Klage gegen Laporte und das Catalanische Institut für Pharmakologie) ausführlich in den rheuma-news vom 12. Februar 2004 berichtet (http://rheuma-online.de/news/248.html) und ihm auch ein Editorial gewidmet (Goliath gegen David oder die Achse des Bösen im Angriff auf einen ehrenwerten Pharma-Giganten? rheuma-online.de/editorial/32.html).
9 Monate nach dem Freispruch von Laporte veröffentlicht nun MSD „neue 3-Jahres-Daten“ aus der APPROVe-Studie und zieht, jetzt für uns alle plötzlich und unerwartet, Vioxx „freiwillig“ weltweit vom Markt zurück und begründet dies mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko von Vioxx, das es für MSD zumindest dem Anschein nach in der Außendarstellung bis dato nicht oder nicht nennenswert gegeben hat.
Ist diese Darstellung glaubwürdig?
Welches börsennotierte Unternehmen verzichtet im Interesse des Patienten auf jährlich 2.5 Mrd. US$ Umsatz und welcher Pharmakonzern bringt sich „freiwillig“ um mehr als ein Viertel seines gesamten Börsenwertes?
Die Frage ist: Was ist der wirkliche Hintergrund für diese Entscheidung?
Ist es die Angst vor milliardenschweren Schadensersatzklagen in den USA? Gibt es noch andere, bislang überhaupt nicht bekannte Daten zu Vioxx, die in der APPROVe-Studie zu Tage gekommen sind? Oder ist einem US-amerikanischen Pharmaunternehmen ethische Verantwortung wirklich 27 Mrd. US$ wert?
Merkwürdig ist jedenfalls der Zeitpunkt der Veröffentlichung, zumindest im Kontext mit der hohen ethischen Verantwortung, die MSD im Zusammenhang mit der weltweiten Rücknahme von Vioxx für sich reklamiert.
Wenn man die Pressemitteilung von MSD zugrundelegt, wurde die APPROVe-Studie, deren 3-Jahres-Daten nun vorgestellt wurden und die zur Rücknahme von Vioxx führte, im Jahre 2000 begonnen. Nach Angaben von MSD zeigte sich eine Zunahme des kardiovaskulären Risikos nach 18 Monaten. Addiert man 18 Monate zum Studienbeginn im Jahre 2000, d.h. gerechnet vom Beginn der Rekrutierung der ersten Patienten, beginnt diese Phase im Laufe des Jahres 2002. Angesichts der enormen Studiengröße mit 2.600 Patienten und der damit verbundenen statistischen Power dürfte man nicht völlig daneben liegen, wenn die ersten Trends, die dann später endgültig in einer Analyse der 3-Jahres-Daten bestätigt wurden, schon im Laufe des Jahres 2003 zu erkennen gewesen wären. Und zwischen dem Jahr 2003 und dem Herbst 2004 liegt nun einmal ein ganz beträchtlicher Zeitraum.
Selbst wenn man unterstellt, daß die endgültige statistische Analyse der Studie tatsächlich erst jetzt vorlag, hätte sich ein wirklich verantwortliches Verhalten eines pharmazeutischen Herstellers darin gezeigt, auch die mit hoher Wahrscheinlichkeit vorher schon vorhandenen Trends in Richtung eines erhöhten kardiovaskulären Risikos ab dem 18. Studienmonat sofort und offen zu kommunizieren, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der seit der VIGOR-Studie zunehmend aufkommenden wissenschaftlichen Diskussion um genau diese Frage.
Und wir erinnern uns: War es nicht ein Artikel aus dem September 2002, der zur Klage von MSD gegen Laporte und einem Gerichtsverfahren gegen diesen Wissenschaftler führte, das dann im Januar 2004 gegen MSD entschieden wurde?
Es wird ein purer Zufall sein, daß es wenige Tage vor der weltweiten Rücknahme von Vioxx für MSD ein freudiges Ereignis gab. Nun endlich, nach langem Warten, mit erheblicher Verzögerung und – soweit man es von außen beurteilen kann – vermutlich auch nach einem beträchtlichen Ringen mit den Zulassungsbehörden wurde das MSD-eigene Konkurrenzprodukt von Vioxx, der neue COX-2-Hemmer ARCOXIA®, von der europäischen Zulassungsbehörde EMEA für die Behandlung von Arthrose, rheumatoider Arthritis und akuter Gichtarthritis zugelassen und konnte ab Mitte September 2004 in Deutschland und damit auf einem der wichtigsten Pharma-Märkte der Welt eingeführt werden.
Keiner wird auf die Idee kommen, daß zwischen dem Start von ARCOXIA® und dem Timing der VIOXX®-Rücknahme ein Zusammenhang besteht. Fakt ist aber, daß wir als gewissenhafte Ärzte und verantwortliche Wissenschaftler von MSD nun die umfassende, schonungslose, transparente und komplette Offenlegung aller Datenbestände zu ARCOXIA® erwarten, auch solche aus laufenden Studien und vorläufige Analysen, zumindest soweit sie sicherheitsrelevante Aspekte zu diesem neuen Präparat betreffen.
Ein weiterer Punkt ist klar:
Auch wenn Vioxx vom Markt genommen wurde, ist damit die Akte Vioxx noch nicht geschlossen.
Ärzte, Wissenschaftler und Patienten haben ein Recht auf die vollständige Aufklärung des Falls von Vioxx und des „Fall Vioxx“. Dies allein schon deshalb, weil zu klären ist, ob es sich bei dem für Vioxx beobachteten erhöhten kardiovaskulären Risiko um ein singuläres Problem dieser einzelnen Substanz handelt oder aber ob es Hinweise darauf gibt, daß dieses Risiko ein generelles Risiko der gesamten Substanzklasse und damit auch der anderen, bereits im Markt befindlichen oder in Zulassung stehenden neuen Coxibe ist.
In der Art, wie MSD jetzt und zukünftig mit vorhandenen Daten und Erkenntnissen umgehen wird und wie offen und transparent das Unternehmen in Zukunft die ihm vorliegenden Informationen kommuniziert, wird sich zeigen, ob für das Unternehmen solche Begriffe wie Verantwortlichkeit, Ethik oder Patienteninteresse nur wohlgeformte Sprechblasen sind oder ob die wirkliche Bereitschaft besteht, diese großen Worte auch
mit greifbaren Inhalten zu füllen, die dann wirklich im Interesse der Patienten und ihrer behandelnden Ärzte sind.
Die Glaubwürdigkeit eines der größten Pharmakonzerne der Welt und damit auch der gesamten Pharmaindustrie steht auf dem Prüfstand – es ist nun an MSD, das Notwendige zu tun.
Priv. Doz. Dr. med. H.E. Langer
Weitere Informationen zur Rücknahme von Vioxx und zu den Daten aus der APPROVe-Studie, die zur weltweiten Rücknahme von Vioxx vom Markt führte, in den rheuma-news vom 2. Oktober 2004 (Das plötzliche Ende einer großen Karriere - Vioxx weltweit vom Markt genommen; rheuma-online.de/news/396.html)