Editorial vom November 2008
Hat es etwas mit Rheuma zu tun, wenn sich ein betrunkener österreichischer Politiker mit maßlos überhöhter Geschwindigkeit zu Tode fährt? Eindeutig nein. Deshalb bringen wir solche Nachrichten nicht in den rheuma-news, und wir haben auch nicht vor, daran etwas zu ändern. Hat es etwas mit Rheuma zu tun, wenn jemand über den Tod dieses Menschen Betroffenheit äußert? Ebenfalls eindeutig nein, und deshalb haben solche Beiträge auch nichts im Rheumaforum zu suchen.
Ebenso wenig im übrigen wie eine klammheimliche Freude, die die Älteren von uns noch aus einem anderen Zusammenhang heraus kennen.
Aber: Hat es etwas mit Rheuma zu tun, wenn es Samstag Wurstgulasch und Vollkornnudeln gibt, Sonntag Hähnchenfrikassee mit Vollkornreis oder Kartoffeln, Mandarinen-Quarkspeise und Montag Reste-Essen? Hotelsuche in Berlin? Eckardt von Hirschhausen? Dampfenten? Natürlich ebenfalls nein. Deshalb findet man solche Threads auch nicht in rheuma-online´s „Rund um das Thema Rheuma“, sondern im Kaffeeklatsch.
Wo aber endet der Kaffeeklatsch und beginnt die Peinlichkeit? Wo das Ärgernis, wo die Beleidigung, wo die Hetze, und wo der Rechtsbruch? Und wo beginnen und wo enden Toleranz, das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und die Achtung vor der Freiheit des Andersdenkenden?
„Dr. Jörg Haider ist tot. Er war einer der schillerndsten und umstrittensten Politiker, die Österreich je hatte.... Mein Mitgefühl gilt seiner Familie und vor allem seiner Mutter, die heute ihren 90-jährigen Geburtstag hat.“
Ausgangspunkt einer sehr wichtigen Diskussion über Freiheit und Verantwortung im Internet, speziell in Internetforen und im Besonderen in den Foren von rheuma-online war diese Beileidsbekundung einer Österreicherin im österreichischen Rheumaforum von rheuma-online.at.
Das Österreichische Rheuma-Forum Rheuma in Österreich - für alle Österreich-spezifischen Fragen und Probleme (Gesetze & Verordnungen, Behörden, Krankenkassen & Anträge etc.) –
wir müssen uns vorwerfen und akzeptieren den Vorwurf, daß wir den Haider-Nachruf an dieser Stelle im Forum stehen gelassen haben, denn mit Rheuma in Österreich und allen zugehörigen Österreich-spezifischen Fragen und Problemen hat er nichts zu tun.
Andererseits: Wenn ein Mensch gestorben ist, und ein anderer Mensch nimmt stille Anteilnahme – läßt es die Pietät zu, einen solchen Thread zu löschen?
„Ruhe in Frieden Jörgi!“
Unsere persönliche Meinung ist, daß mit diesem Nachsatz zumindestens tendenziell aus Beileid ein politisches Statement wird, und der weitere Verlauf des Threads zeigt, daß es nun zunehmend in diese Richtung geht:
„Den Angehörigen von Dr. Haider möchte ich hiermit mein Beileid bekunden und mein Bedauern zu diesem entsetzlichen Unglück zum Ausdruck bringen.
Möge der Herrgott seiner Seele Frieden geben.
Für mich und meine politische Einstellung ist er einer der Grossen.“
59 Minuten später dieses Posting, ausgerechnet von einer Userin aus Deutschland, bereits 11 Minuten später dann die entsprechende Reaktion, bezugnehmend auf ein Zitat von Jörg Haider aus einer 1995 gehaltenen Ansprache gegenüber Veteranen der Waffen-SS.
Die Neu-Userin:
„Ich habe mich erst neu hier im Forum angemeldet und werde nach diesem ersten und auch letzten Beitrag wieder austreten.
Wie kann man um so einen Mann ernsthaft trauern!?
Ich danke Gott, dass er in diesem Fall die richtige Entscheidung getroffen und die Welt von solch einem Übel befreit hat!“
Muß, soll, kann und darf ein Forum auch einen solchen Satz aushalten, den mancher als Ungeheuerlichkeit bezeichnen würde?
Der weitere Gang der Dinge ist nachzulesen; alles in allem ist der gesamte Thread ein denkwürdiges Beispiel dafür, wie wir uns ein Rheumaforum im speziellen und auch ein Forum im allgemeinen nicht wünschen.
Warum wir den Beitrag nicht komplett gelöscht haben?
Mit Sicherheit nicht, weil wir eine braune Gesinnung unterstützen. Sondern, weil die ernsthafte Auseinandersetzung mit den Inhalten und der Form dieses Threads uns allen die Chance bietet, eine Diskussion darüber zu eröffnen, welche Schwerpunkte wir in den einzelnen Foren und Unterforen von rheuma-online setzen wollen, was wir dort nicht akzeptieren möchten, können und sollen und nicht zuletzt auch, wie man in einem Forum inhaltlich durchaus sehr kontrovers diskutieren kann, ohne sich gegenseitig persönlich zu beleidigen oder sogar das gesamte Forum öffentlich zu diffamieren.
„Seit über einem Jahr bin ich Mitglied dieses Forums. Was ich in dieser Zeit in diesem Forum erlebt habe, geht weit über den Durchschnitt weltweiter Foren-Schizophrenien hinaus. Für mich selbst, privat und persönlich hatte ich die hier häufig ablaufenden Kampf- und Vernichtungsmechanismen gegen Andersdenkende als "faschistoid" klassifiziert.“
Über dieses Statement könnte man einen sehr langen Essay schreiben. Man könnte darüber auch tiefgehende psychologische Studien anstellen. Man kann es aber auch sehr schlicht formal analysieren.
Im Ergebnis:
Satz 2:
„Was ich in dieser Zeit in diesem Forum erlebt habe, geht weit über den Durchschnitt weltweiter Foren-Schizophrenien hinaus.“,
ist eine Behauptung, die mit einem schon fast axiomatischen Anspruch eine Verallgemeinerung und eine Allgemeingültigkeit für sich reklamiert, die auch nicht im Ansatz durch einen empirischen, objektiv nachvollziehbaren Beleg abgesichert ist.
Die Technik eines subtilen Agitators besteht darin, aus einer solchen, zum Faktum erklärten Behauptung dann eine Schlussfolgerung zu ziehen, die jedes Gegenargument prospektiv eliminiert:
„Für mich selbst, privat und persönlich hatte ich die hier häufig ablaufenden Kampf- und Vernichtungsmechanismen gegen Andersdenkende als "faschistoid" klassifiziert.“
Das Zauberwort aus der linguistischen Hexenküche des Ideologen heißt „faschistoid“.
Wer sich intensiv mit Sprache und der Verwendung von Sprache zur Deklassierung von Andersdenkenden beschäftigt hat, wird auf Anhieb erkennen, daß hier versucht wird, ohne Rücksicht auf die Gesamtheit der je individuellen Personen einen verbalen Vernichtungsmechanismus gegen eine ganze Community in Gang zu setzen, der mit seiner perfiden Raffinesse seinesgleichen sucht.
„Der Begriff faschistoid („dem Faschismus ähnlich“, „faschistische Züge tragend“) ist ein politischer Kampfbegriff.
Als „faschistoid“ werden Eigenschaften bzw. Haltungen bezeichnet, die dem Faschismus mehr oder weniger ähnlich sind, aber in abgeschwächter Form auftreten. Auch einzelne Bestandteile einer Ideologie bzw. eines politischen Systems werden manchmal als faschistoid bezeichnet. Man spricht dann von faschistoiden Tendenzen des jeweiligen Systems bzw. der betreffenden Ideologie.
Der Begriff wird in der Regel polemisch verwendet, um politischen Gegnern übermäßig autoritäres oder autoritätsgläubiges Verhalten vorzuwerfen. So unterstellten beispielsweise Teile der 68er-Bewegung sowie die linksterroristische Rote Armee Fraktion den maßgeblichen Vertretern der Bundesrepublik der 1960er und 1970er Jahre faschistoide Züge bzw. eine postfaschistische Attitüde.“
Soweit Wikipedia zum Begriff „faschistoid“.
Eine privates Statement von Dr. Langer: Ich kann auch einfach.
Als ich heute morgen mit unserem Landseer-Rüden Hunter über die Rheinwiesen ging, war Romeo mit dabei. Romeo ist Hunters Freund und ein Rhodesian Ridgeback. Er kann nichts dafür, daß sein Fell braun ist. Ich habe mir aber nach dem Angriff auf rheuma-online und das rheuma-online-Forum die ernsthaft launische Frage gestellt, ob ich in Zukunft weiter mit ihm zusammen gesehen werden darf, denn dies wäre vermutlich der endgültige Beleg für die mir unterstellte braune Gesinnung.
Das Internet eröffnet ungeahnte neue Möglichkeiten der Kommunikation. Es hat Freiheiten geschaffen, die es früher nicht gab, den Austausch und die Gemeinsamkeit mit anderen, ohne in das Treffen der Rheumaliga-Gruppe, zum Stammtisch, zum Kaffeeklatsch oder auch in die Kirche gehen zu müssen.
Da das Internet die Grenzen der Körperlichkeit aufgehoben hat, hebt es aber gleichzeitig auch die Korrektive auf, die mitmenschliche Interaktion typischerweise auszeichnen: Stimme, Mimik, Körpersprache und die entsprechende Reaktion des Gegenübers.
Weiterhin bietet das Internet den Schutz der Anonymität. Hinter Pseudonymen wie Nudelmonster, Schlingpflanze, Jakobsweg, Krümmel, Honeymoon oder Sunnyside, um nur einige Beispiele aus aktuellen Threads zu nennen, verbergen sich zwar konkrete Personen, die aber gerade bei Erstregistrierung kaum Rückschlüsse auf den dahinter stehenden Menschen zulassen. Dies macht es im positiven einfacher, Probleme zu artikulieren, die man im unmittelbaren mitmenschlichen Gespräch vielleicht nicht äußern würde, dies ebnet aber auch den Weg für Grenzüberschreitungen, Provokationen, Angriffe und Beleidigungen bis hin zu politischer Agitation und direktem Rechtsbruch.
Je größer eine Community wird, umso weniger kann sie sich auf ungeschriebene Regeln verlassen, um nicht nur stressfrei miteinander auszukommen, sondern um letztendlich überhaupt zu überleben.
32.811 Themen, 335.863 Beiträge und 8.443 Besucher am 1. November 2008 – das rheuma-online-Forum hat einem Umfang erreicht, der ganz ohne Regulierung nicht mehr auszukommen scheint. Daß wir dieses hier und heute so schreiben, ist vielleicht auch die aus einem ganz anderen Zusammenhang gewonnene Erkenntnis, daß Liberalismus pur offensichtlich zu Blasen führt, die irgendwann einmal sehr schmerzhaft platzen.
Die Folge kann und darf nicht die mediale Zwangsjacke sein. Wie meistens im Leben, liegt das Optimum irgendwo zwischen diesen beiden Extrempositionen.
Wir möchten den richtigen Weg gerne mit unseren Userinnen und Usern gemeinsam erarbeiten und eröffnen hiermit die Diskussion über einen rheuma-online-Foren-Kodex, die wir zunächst im Forum beginnen und später vielleicht sogar in einem kleinen Usertreffen vertiefen wollen.
Bis dahin erhoffen wir uns viele wichtige, kritische und konstruktive Beiträge.
Priv. Doz. Dr. med. H.E. Langer als ärztlicher und wissenschaftlicher Berater von rheuma-online
Gaby Langer als Herausgeberin von rheuma-online
Alexander Langer und Claudia Langer als Redaktionsmitglieder