Editorial vom November 2002
Wie angekündigt, ausnahmsweise in diesem Monat November nun ein zweites Editorial. Ausgangspunkt und eigentlicher Anlass war ein Posting im Forum, das uns sehr berührt und nachdenklich gemacht hat. Die Reaktion darauf musste reifen, auch geläutert werden durch den 11.11., der bei uns im Rheinland traditionell der Beginn des Karnevals ist, denn sonst wäre es wahrscheinlich nicht zu ertragen gewesen. Allerdings sollte es auch Abstand von diesem Tag gewinnen, um zum Nachdenken und In-Sich-Gehen anzuregen. Denn das Thema hat Elemente einer Realsatire und ist damit ernst. Deshalb die Plazierung nach dem Buß- und Bettag.
Deutschland im Herbst
29.09.2002, 11.11.2002, 11 Uhr 11 und 20.11.02. Irgendwo in Deutschlands Osten. Berlin. Meerbusch.
Wir in Deutschland haben eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Und unsere medizinische Versorgung gehört natürlich ebenfalls zu den besten der Welt. Und deshalb hören unsere Politiker und die ärztlichen Funktionäre und die Krankenkassenfunktionäre nicht auf, es unermüdlich zu betonen, wie gut es den Patienten in Deutschland geht.
Wir freuen uns darüber. Denn sonst wüssten wir ja auch gar nicht, warum die Krankenkassenbeiträge schon wieder steigen sollen.
Und was wirklich schlimm wäre, wäre eine Zweiklassenmedizin in Deutschland. Und daß medizinische Entscheidungen zur Diagnostik und Therapie davon abhingen, ob jemand bei der AOK oder der Barmer Ersatzkasse oder bei einer anderen gesetzlichen Krankenkasse versichert ist oder bei der privaten Krankenversicherung.
Und dass teure Medikamente nicht verschrieben werden könnten, weil bei den Kassenpatienten in diesem Jahr das gesetzlich festgelegte und anschließend von den Krankenkassen zur Verfügung, Verwaltung und Verwertung gestellte Budget verbraucht wäre.
Denn dann kämen wir Rheumatologen in die Situation, dass es wirksame Medikamente gegen schwerverlaufende rheumatische Krankheiten gäbe, mit denen die Erkrankung im günstigsten Fall vollkommen gestoppt werden kann, und wir könnten sie nicht bei jedem Patienten einsetzen, der sie braucht, weil das Geld dafür nicht da wäre.
Und wir Ärzte hätten auf der anderen Seite sogar noch das Problem, dass uns zwar der Gesetzgeber nicht das Geld gäbe, was wir für eine adäquate Versorgung unserer Patienten brauchten, uns aber auf der anderen Seite unter Gesetze stellt, und das zu recht, die uns darauf verpflichten, unsere Patienten auf dem aktuellen Stand des medizinischen Wissens zu behandeln.
Und das ist auch gut so, unabhängig davon, dass sonst ja auch die Gefahr bestünde, dass Politiker und andere fürsorgliche Entscheidungsträger unter Umständen selbst betroffen sein könnten und vielleicht sogar Angehörige des Parlaments befürchten müßten, im Falle einer ernsthafteren Erkrankung nicht das Recht auf eine moderne Therapie einfordern zu können.
Eine Frage, die sich mir in diesem Zusammenhang stellt: Wer weiß eigentlich, wie ein Bundeskanzler krankenversichert ist? Ist er privat mit Beihilfeberechtigung, so wie die Ministerialbeamten? Oder freiwilliges Mitglied in der Betriebskrankenkasse von VW?
Aber, um das eigentliche Thema fortzuführen: Wofür wir überhaupt kein Verständnis haben, ist, dass es Menschen in dieser Republik gibt, die es bis heute nicht verstanden haben, wie gut es uns geht und wie dankbar wir für unser modernes, soziales und ökologisches Gesundheitssystem sein dürfen.
Es gibt sogar Stimmen, die sagen, wer arm ist, muß sterben. Das gibt es doch nur in Afrika.
Deshalb distanzieren wir uns mit allem Nachdruck von einem Posting im Forum, das den Eindruck erweckt, es könnte in Deutschland so etwas wie eine unzureichende medizinische Versorgung geben.
Und damit alle „buh“ und „pfui“ und noch schlimmere Kommentare abgeben können, stellen wir dieses Posting ganz offiziell an den Pranger, so wie im Mittelalter:
„... Einige der ansässigen Rheumatologen die wir hier in der Umgebung haben, sagten bisher immer, dass sie auch nichts anderes tun können als dieses Cortison zu verschreiben.
Meine Mutti meint, dass die Rheumatologen klagen, dass ihr Budget überzogen wäre und sie deshalb nichts anderes verschreiben können. Sie versucht nächste Woche eine Laserbehandlung der Kniescheiben. Dies ist aber auch nur eine kurze vorübergehende Schmerzbefreiung.
Im Krankenhaus hat man ihr gesagt, es gibt eine Medizin, diese kostet 20.000,00 DM/Jahr welche sie selber bezahlen müßte. Sie ist Invalidenrentnerin wg. dem Rheuma. Weil sie arm ist, muss sie sterben, sagt sie.
Bei einem jungen Rheumatologen in ... bekommt sie einen Termin nicht vor Januar 2003. ... „
Soweit die Rheumatologie in Deutschland am 29. September 2002, dem Tag dieses Beitrags.
Wir haben gerade gewählt und freuen uns darüber, dass wir einen vorbildlichen Kanzler haben, der es nicht nur mit Jahrhundertfluten aufnimmt, sondern auch noch mit dem amerikanischen Präsidenten.
Ein Kanzler, der unserer Land mit Herz und Hand geradlinig durch die Krisen dieser Welt steuert, die alle nicht hausgemacht sind, sondern von außen über die Republik hereinschwappen.
Und der ein so gutes Gedächtnis hat, dass er sich an alles erinnert, was er gestern und vorgestern und vor allem vor der Wahl gesagt hat. Damit wir ihn beim Wort nehmen können und uns auf ihn verlassen können. Wobei es ja eine neue Lebenserfahrung in Deutschland ist, dass nicht alles, was gesagt wurde, so gemeint war, wie es gehört wurde.
Bei ihm können wir uns aber wenigstens darauf verlassen, dass wir auch weiterhin unser bewährtes Gesundheitssystem behalten. Und wenn es vor dem Abgrund steht, machen wir einfach einen kühnen Schritt nach vorn. Wofür haben wir schließlich unsere Ulla? Als ausgebildete Lehrerin muss sie es wissen: In unserem Gesundheitssystem schlummern noch viel mehr Reserven, als es die Allerkühnsten bislang angenommen haben. Es muss doch möglich sein, den Mangel noch effizienter zu verwalten. Wofür haben wir in Deutschland denn eigentlich unsere Bürokratie?
Vielleicht sollte der Kanzler von der berühmten Kanzlerfaust Gebrauch machen und mal auf den Tisch der Gesundheitsmafia schlagen. Und den Pharmafirmen zeigen, was eine Harke ist. Und den Ärzten sagen, dass es auch anders geht.
Auf jeden Fall scheint er sich im Augenblick mit alternativen Heilmethoden zu beschäftigen. Das neueste Gerücht ist, dass Schröder jetzt zum Ehrenmitglied der Heilpraktiker ernannt werden soll. Die Begründung: Das Schröpfen beherrsche er am besten von allen, und es solle bei ihm überhaupt nicht weh tun. Kann schon stimmen. Denn manche werden von ihm zur Ader gelassen, ohne es zunächst zu merken.
Deutschland im Herbst.
Die grünen Blätter an den Bäumen färben sich rot.
Die Wälder leuchten im schräg einfallenden Licht der Nachmittagssonne. Auf den Lichtungen ist es noch warm. In diesem Jahr wird es keine Winterkälte geben. Notfalls wird beim ersten Frost eine Chefsache daraus gemacht. Und anschließend erklärt, dass Kälte ohnehin das Beste gegen Rheuma ist.
Wir sollten dankbar sein, dass der Winter kommt.
Denn in diesem Jahr gibt es den Schnee noch umsonst. Für 2003 ist eine Schneesteuer bereits angedacht. Sie soll zweckgebunden dazu verwendet werden, dass es auch im Tiefland schneit und auch in den bislang schneearmen Gegenden die Lufthoheit über die Schneeflocken errungen wird. Mit einem großen Investitionsprogramm sollen dabei flächendeckend Schneemaschinen angeschafft werden (das Wort „Schneekanonen“ war auf Intervention der Grünen in der Koalitionsvereinbarung nicht durchsetzungsfähig).
Was aber ja eigentlich auch in Ordnung ist. Schließlich ist es doch nur mehr als sozial gerecht, wenn auch Bayern einen Beitrag dazu leistet, eine ausreichende Versorgung des Rheinlands mit Schnee sicherzustellen. Außerdem sollen in erster Linie die Schnee-Reichen belastet werden. Experten haben errechnet, dass 90% der deutschen Haushalte mit mehr als 5 Kindern von der neuen Schneesteuer nicht betroffen sein werden, wenn sie weniger als 3 Rodelschlitten besitzen.
Für die notwendige Mehrheit im Bundesrat wurde den Ländern als Ausgleich zugesagt, Diesel für Schneeräumfahrzeuge nur mit dem halben Ökosteuersatz zu belegen.
Wir von rheuma-online versuchen derzeit, in enger Abstimmung mit den Verbänden zu erreichen, dass wenigstens der medizinisch-therapeutische Einsatz von bayrischem Naturschnee nur mit dem halben Steuersatz belegt wird.
Für chronisch Kranke wurde uns eine vollständige Befreiung bereits zugesichert. Dazu wird ein neues Antragsverfahren geschaffen. Eine Kommission ist derzeit bereits damit beschäftigt, in Abstimmung mit den Gewerkschaften und dem Verbraucherschutzministerium entsprechende Kriterien festzulegen. Insgesamt ist man sich einig, dass die Neuregelung nicht nur mehr soziale Gerechtigkeit schafft, sondern auch eine wertvolle Initiative zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit darstellt, denn bei den neu zu schaffenden Verwaltungsstellen sollen bevorzugt ältere Langzeitarbeitslose eingestellt werden.
Was war der Ausgangspunkt? Ach ja. Unser Gesundheitssystem ist ja eines der besten der Welt. Bald wird es noch leistungsfähiger werden. Denn dann steht Schnee als natürliches Heilmittel flächendeckend in ganz Deutschland für die Selbstmedikation bei rheumatischen Erkrankungen zur Verfügung. Wofür brauchen wir dann noch Mtx, Arava, Kineret, Remicade oder Enbrel?
Die Session ist eröffnet – H.E.L.(au)