Editorial vom März 2006
Not heiligt die Mittel – Heilmittel in Not Die neuen Heilmittelbudgets in Nordrhein bringen Patienten um notwendige Therapien und medizinische Assistenzberufler um ihren Job 415 Millionen Euro wurden in 2005 in Nordrhein für Heilmittel ausgegeben. Für 2006 stehen jetzt nur noch 390 Millionen zur Verfügung. Das bedeutet eine effektive Kürzung der Mittel. Die Leidtragenden sind die Patienten, aber auch die Therapeuten.
Mehr als nur Aschermittwochs-Katerstimmung beherrscht gegenwärtig die Krankengymnastinnen und Krankengymnasten, Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten, medizinische Masseure, Logopädinnen und Logopäden und weitere Heilberufler in Nordrhein, denn es geht bei vielen von ihnen um die nackte wirtschaftliche Existenz.
Von vielen Ärzten zunächst überhaupt nicht wahrgenommen, von den Therapeuten erst auch nicht bemerkt, haben die Krankenkassen und die Kassenärztliche Vereinigung in Nordrhein nicht nur ein neues Heilmittelbudget für 2006 vereinbart, sondern zugleich auch Sanktionen bei Überschreitungen angekündigt, die so hart greifen, als wolle man zukünftig Krankengymnastik, Ergotherapie, Logopädie, Massagen, Lymphdrainagen und weitere Heilmitteltherapien in Nordrhein mehr oder weniger vollständig zum Erliegen bringen.
Ein Beispiel: Ein internistischer Rheumatologe, der im Quartal 1.000 Patienten behandelt, darf 16 Patienten (in Worten: sechzehn) jeweils eine Serie von 6 ergotherapeutischen Behandlungen verordnen, danach ist das Budget erschöpft. Verordnet er mehr, muß er sich einer sogenannten Wirtschaftlichkeitsprüfung unterziehen. Gelingt es dabei nicht, den versammelten Nicht-Rheumatologen im Prüfungsausschuß die Notwendigkeit der Behandlung zu beweisen, greift der Regreß, will heißen: er bekommt die Kosten für die verordneten Leistungen von seinem Honorar abgezogen.
Die Konsequenz: In einigen Praxen, und dies betrifft nicht nur die Rheumatologie, sondern in ähnlicher Weise mehr oder weniger alle Ärzte in Nordrhein, finden Verordnungen von Heilmitteln praktisch nicht mehr statt.
Einzelne Berufsverbände empfehlen ihren Mitgliedern, Heilmittel nur noch auf Privatrezept zu verordnen. Betroffen sind – wie bei vielen dieser Budgetregelungen in der Vergangenheit – die chronisch Kranken und alle Schwachen, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht in der Lage sind, ihr Recht auf eine angemessene Behandlung einzufordern und durchzusetzen.
Mindestens genauso schlimm: Hochqualifizierte, engagierte Therapeuten geraten in den Strudel kollektiver Verweigerungsreaktionen, der sie an den Rand des finanziellen Ruins treibt. Anke Selbach, Leiterin des Instituts für Ergotherapie in Düsseldorf und eine der führenden Ergotherapeutinnen im Bundesgebiet, beschreibt die Situation so: „In den Praxen und unter den Therapeuten ist die Stimmung allgemein sehr schlecht. Erste Entlassungen von Mitarbeitern sind bereits erfolgt. Uns selber geht es noch vergleichsweise gut. Aber auch bei uns verschreiben 3 Zuweiser keine Ergotherapie mehr, bzw. nur noch auf Privatrezept. Bei einigen Kollegen sind die Umsätze um bis zu 50% zurückgegangen. Einige Praxen kämpfen bereits ums Überleben, und das sind nicht die schlechtesten. Alle, die sich auf die Ergotherapie bei Kindern spezialisiert haben, haben massive Einbußen, da die Kinderärzte praktisch keine Ergotherapie mehr verschreiben“ (wahrscheinlich haben sie ein ähnlich pralles Budget wie die internistischen Rheumatologen, Anm. vom Verfasser dieses Editorials).
Sinnhaft kann das alles nicht sein. Was hilft es der Krankenkasse, wenn eine Operation gelungen ist, das Gelenk anschließend aber versteift, weil die notwendige krankengymnastische Nachbehandlung aus Budgetgründen nicht erfolgt. Oder wenn die notwendige regelmäßige Lymphdrainage bei einem chronischen Lymphödem nach einer Brustkrebsoperation und Entfernung aller Achsellymphknoten nicht mehr weitergeführt wird, und sich auf den dick geschwollenen Arm ein Erysipel setzt, d.h. eine bakterielle Infektion, die dann nicht nur erhebliche Folgekosten mit sich bringt, sondern „nebenbei“ auch noch den Patienten in eine lebensgefährliche Situation bringen kann. Oder wenn es keine Ergotherapie mehr gibt, da das bisschen Schwanenhalsdeformität bei einer rheumatoiden Arthritis ja den Patienten nicht umbringt, sondern nur verhindert, daß er seine Hände wie ein normaler Mensch gebrauchen kann. Die Beispiele sind Legion; wir wollen es bei diesen wenigen belassen. Ich bin auch noch nicht an der Stelle angekommen, denjenigen, die solche Regelungen erfinden, eine richtig gemeine, schwer verlaufende rheumatoide Arthritis zu wünschen. Allerdings gestehe ich, daß ich kurz davor bin.
Net quake, make: Das Motto des Düsseldorfer Rosenmontagszuges ist zwar passé, aber ein Stück hilft es auch nach Aschermittwoch weiter. Was ist zu tun?
Erstens: Das Fatalste ist, wenn wir Ärzte vor der Druckkulisse von Krankenkassen und unserer eigenen kassenärztlichen Vereinigung einknicken und das medizinisch Notwendige nicht mehr tun. Was im übrigen den fatalen Nebeneffekt hätte, daß man dann auch noch auf die Idee kommen könnte, man hätte vorher ohne diesen Druck tatsächlich unwirtschaftlich therapiert. Ich persönlich gebe hiermit öffentlich bekannt, daß für mich als internistischen Rheumatologen das mir statistisch zugebilligte Heilmittelbudget auch nicht im Ansatz ausreicht, und daß ich auch in Kenntnis etwaiger Sanktionen nicht darauf verzichten werde, meine Patienten angemessen mit dem zu versorgen, was ihnen zusteht. Ich habe bereits in der Vergangenheit kein einziges „Gefälligkeitsrezept“ ausgestellt und immer streng auf die Wirtschaftlichkeit meiner Verordnungen geachtet. Es ist nicht mein Problem und noch viel weniger das Problem meiner schwerkranken Rheumapatienten, wenn ich, aus welchen Gründen auch immer, als internistischer Rheumatologe bei der Budgetberechnung für Heilmittel mit einem Endokrinologen oder Kardiologen verglichen werde (kurze Nachfrage und eine Bitte um entsprechende E-Mails: kennt überhaupt irgendjemand irgendwen, der wegen einer Schilddrüsenunterfunktion oder Schilddrüsenüberfunktion von einem Endokrinologen Ergotherapie oder Krankengymnastik verordnet bekommen hätte? Oder vielleicht auch Spezialmassagen für die Schilddrüse? Vielleicht ist da aber auch irgendetwas beim medizinischen Fortschritt an mir vorbeigegangen. Was ich weiß, ist, daß es Herzmassage gibt. Ich hatte das bislang allerdings immer für eine Notfallmaßnahme gehalten und nicht gewusst, daß ein Kardiologe das auch bei einem medizinischen Masseur verordnet).
Zweitens: Wir sollten schnellstens einfordern, daß die angedrohte Wirtschaftlichkeitsprüfung bei Budgetüberschreitung entfällt, wenn von vorneherein sogenannte Praxisbesonderheiten bestehen. Eine ebenso bewährte wie pragmatische Lösung gibt es in Nordrhein doch bereits für die langwirksame antirheumatische Therapie („Basistherapie“) oder auch bei anderen speziellen Indikationen. Warum also nicht auch Ausnahmeziffern für wirklich kranke Patienten wie unsere rheumatologischen Patienten mit rheumatoider Arthritis, Psoriasis-Arthritis, M. Bechterew und vergleichbaren Erkrankungen? Von 100 Bechterew-Patienten in einer internistisch-rheumatologischen Praxis nur 1,6 Patienten mit einer Krankengymnastikserie von 6 Einzel-KG´s einmal pro Quartal? Kann irgendwie nicht sein. Deshalb muß eine Regelung gefunden werden, diese medizinisch völlig unzweifelhaften und uneingeschränkt notwendigen Verordnungen vorab aus der Wirtschaftlichkeitsprüfung herauszunehmen.
Drittens: Die Betroffenen sollten die Öffentlichkeit suchen. rheuma-online ist dafür die ideale Plattform. Schreiben Sie, schreibt uns, postet im Forum, wenn ihr den Eindruck habt, daß notwendige Behandlungen nicht mehr rezeptiert werden. Speziell geht es um Krankengymnastik, weitere physikalische Therapie wie Wärme- oder Kältetherapie, Elektrotherapie, Massagen, Lymphdrainagen, Ergotherapie etc. Wenn sich dabei herauskristallisiert, daß in Nordhein nicht mehr der medizinische Sachverstand, sondern die Angst vor der Wirtschaftlichkeitsprüfung die Behandlung von schwer kranken Menschen bestimmt, werden wir miteinander nach Aktionen suchen müssen, die diese Fehlentwicklung beendet.
Eines allen zur Erinnerung: Gemeinsam sind wir viel stärker, als der einzelne denken mag. Und wir haben in der Vergangenheit schon sehr viel bewirkt. Wir wollen nicht die Muskeln spielen lassen, aber eine kleine Zahl am Rande wollen wir nicht unterschlagen: Am 25. Februar 2006 hat rheuma-online eine weitere Schallmauer durchstoßen und vermeldet mit 21.829 Besuchern pro Tag erstmals eine tägliche Userzahl von über 20.000. Ist immerhin soviel Holz, daß man damit schon ein kleines Feuerchen anzünden kann.
Allen unseren Usern, insbesondere auch den Rheumapatienten in Nordrhein, wünschen wir eine erträgliche Fastenzeit (keine Krankengymnastik, keine Massagen, keine Lymphdrainage, keine Ergotherapie, aber es gibt ja trotzdem noch andere schöne Dinge im Leben, notfalls auch auf Privatrezept) und einen schönen Frühlingsanfang.
Für das rheuma-online-Team
Priv. Doz. Dr. med. H.E. Langer