Das plötzliche Ende einer großen Karriere - Vioxx weltweit vom Markt genommen
MSD, der pharmazeutische Hersteller von Vioxx und Vioxx Dolor, hat beide Präparate mit sofortiger Wirkung weltweit vom Markt genommen. Hintergrund sind neue Daten zu einem erhöhten Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko bei längerfristiger Einnahme von Vioxx (länger als 18 Monate).
WHITEHOUSE STATION, N.J. und Haar bei München, Sept. 30, 2004 - Merck & Co. Inc., NJ, USA (in Deutschland MSD SHARP & DOHME GMBH, München) hat mit Datum vom 30. September 2004 und mit sofortiger Wirkung die freiwillige weltweite Rücknahme von VIOXX® und VIOXX®DOLOR (Rofecoxib) vom Markt bekannt gegeben. Hintergrund sind neue Daten zu einem erhöhten Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko bei längerfristiger Einnahme von Vioxx (länger als 18 Monate).
Der 1. Oktober 2004 begann für die Rheumatologen und ihre Patienten mit einem Paukenschlag. Viele von ihnen erfuhren erst aus den Nachrichten oder aus der Zeitung, daß Vioxx und Vioxx Dolor mit sofortiger Wirkung vom Markt genommen wurden.
Der pharmazeutische Hersteller von Vioxx, der US-amerikanische Pharmakonzern MSD (Merck Sharp & Dohme), hatte die Entscheidung in den Nachmittagsstunden des 30. September 2004 bekanntgegeben.
Die offizielle Pressemitteilung spricht von einer freiwilligen Rücknahme der Präparate. Hintergrund der Entscheidung sind Daten aus einer klinischen Studie, nach denen unter der längerdauernden Einnahme von Vioxx ein erhöhtes Schlaganfall- und Herzinfarkt-Risiko zu bestehen scheint.
Diese prospektive, randomisierte, plazebo-kontrollierte klinische Studie wurde an Patienten durchgeführt, bei denen im Dickdarm ein gutartiger Tumor entfernt worden war (sogenannte Colon-Rectum-Polypen, colorectale Adenome, deshalb APPROVe-Studie: Adenomatous Polyp Prevention on Vioxx-Studie). Die Fragestellung war, ob sich durch die tägliche Einnahme von 25 mg Vioxx die Rückfallrate reduzieren läßt, d.h. ein verringertes Auftreten von neuen Dickdarmpolypen / Dickdarmtumoren.
Die Studie erfaßte mit insgesamt 2.600 Patienten ein sehr großes Patientenkollektiv. Die Hälfte der Patienten nahm täglich 25 mg Vioxx ein, die andere Hälfte wurde mit einem gleich aussehenden, aber unwirksamen Präparat behandelt (einem sogenannten Placebo). Die Studie begann im Jahre 2000. Ursprünglich sollte die Studiendauer 3 Jahre betragen. Aus Sicherheitsgründen wurde die Studie nun vorzeitig abgebrochen.
Zunächst hatte sich in den ersten 18 Monaten kein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko für Vioxx gezeigt, d.h. die Rate an Schlaganfällen und Herzinfarkten war in der Patientengruppe, die täglich 25 mg Vioxx eingenommen hatte, genauso niedrig wie in der Placebo-Gruppe. Im folgenden Zeitraum stieg dieses Risiko in der Vioxx-Gruppe dann jedoch an und führte zum vorzeitigen Abbruch der Studie.
Nach Angaben von MSD gibt es derzeit noch keine Erklärung für das im längeren Behandlungsverlauf zunehmende kardiovaskuläre Risiko unter Vioxx.
Der Präsident und Chief Executive Officer von Merck & Co., Inc., Whitehouse Station, NJ, USA, begründet die Rücknahme von Vioxx so:
"Wir treffen diese Entscheidung, weil wir glauben, dass diese am besten dem Interesse des Patienten entspricht. Obwohl wir der Meinung sind, dass es möglich wäre, VIOXX® auf dem Markt zu belassen mit einer Fach- bzw. Gebrauchsinformation, die diese neuen Daten widerspiegelt, sind wir aufgrund der vorhandenen alternativen Therapiemöglichkeiten und der Fragen, die durch diese Daten aufgeworfen werden, zu dem Schluß gekommen, dass eine freiwillige Marktrücknahme der beste Schritt ist."
VIOXX® kam in den USA 1999 auf den Markt und wurde in mehr als 80 Ländern zugelassen. In Deutschland ist Vioxx seit November 1999 offiziell erhältlich. Der weltweite Umsatz mit VIOXX® betrug im Jahre 2003 2,5 Milliarden US-Dollar.
Die Ärzte und ihre mit Vioxx behandelten Patienten wurden von der MSD-Entscheidung vollkommen unvorbereitet getroffen. Die derzeit zur Verfügung stehenden Informationen sind mehr als spärlich und gehen über den oben dargestellten Sachverhalt nicht hinaus. Deshalb ist eine differenzierte Bewertung des genauen Sachverhaltes gegenwärtig noch nicht möglich.
Für Patienten, die wegen einer rheumatischen Erkrankung, z.B. einer rheumatoiden Arthritis oder einer Arthrose, oder wegen Schmerzen mit Vioxx bzw. Vioxx Dolor behandelt wurden, bestand nach früheren Darstellungen von MSD, die sich auf die bisherige Datenlage aus den zugehörigen klinischen Studien berufen, kein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko.
Zwar war nach den Ergebnissen der sogenannten VIGOR-Studie (VIOXX GI Outcomes Research ), die im März 2000 vorgestellt wurden, bei Patienten, die wegen einer rheumatoiden Arthritis über einen Zeitraum von bis zu einem Jahr mit täglich 2 x 25 mg Vioxx behandelt worden waren, gegenüber der Behandlung mit dem im Vergleich eingesetzten Entzündungshemmer Naproxen ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko in der Vioxx-Gruppe beobachtet worden.
Da in dieser Studie aber keine Vergleichsgruppe mit Placebo vorgesehen war, konnte nicht entschieden werden, ob der Unterschied in den beiden Studiengruppen durch ein erhöhtes Risiko in der Vioxx-Gruppe oder ein verringertes Risiko in der Naproxen-Gruppe zustande gekommen war. Für die zweite Interpretation sprach die bekannte Tatsache, daß Naproxen eine starke aspirin-artige Wirkung besitzt und deshalb durch diese Substanzeigenschaft ein Schutz vor Herzinfarkten und Schlaganfällen zu erwarten war.
Diese Vorstellung wurde nach Angaben von MSD durch eine nachfolgende Analyse aller Daten aus allen bisherigen, placebo-kontrollierten Studien zu Vioxx gestützt, nach denen das Risiko für Schlaganfälle und Herzinfarkte unter der Einnahme von Vioxx nicht erhöht war.
Es stellt sich damit die Frage, ob die Daten aus einer Studie an Patienten mit Dickdarm-Tumoren überhaupt auf die Situation bei Patienten mit rheumatischen Erkrankungen übertragbar ist. Daraus abgeleitet stellt sich die weitere Frage, ob die Entscheidung von MSD in erster Linie auf medizinischen oder aber eigentlich auf juristischen Überlegungen beruht (Stichwort Produkthaftung und Schadensersatzklagen).
In diese oder zumindest eine ähnliche Richtung geht auch die Stellungnahme des Pharmakologen Thomas Hohlfeld von der Universität Düsseldorf. Danach seien, wie die Süddeutsche Zeitung in ihrer Ausgabe vom 2./3. Oktober 2003 schreibt (Seite 2), mitunter die Reaktionen auf entdeckte Arzneimittelrisiken auch übertrieben und zu emotional. Die Süddeutsche zitiert Hohlfeld: „Es ist fast schade, daß Vioxx jetzt ganz vom Markt verschwindet“. Denn wenn das Medikament gezielt bei Rheumapatienten eingesetzt würde, die Magen-, aber keine Herzprobleme haben, sei es mitunter segensreich.
Diese Auffassung deckt sich mit den eigenen Erfahrungen aus dem sehr umfangreichen Einsatz von Vioxx und Vioxx Dolor über einen mittlerweile recht langen Zeitraum, d.h. seit der Markteinführung in Deutschland im November 1999, und einer recht großen Zahl von Patienten, die wahrscheinlich mehr als 1.000 betragen dürfte. Diese eigenen Erfahrungen sprechen für eine hohe Sicherheit von Vioxx und Vioxx Dolor, wenn die Einnahme sachgerecht erfolgte, die bekannten Risikofaktoren beachtet wurden und die Behandlung regelmäßig und qualifiziert ärztlich überwacht wurde.
Allerdings bleiben auch eine ganze Reihe von kritischen Fragen offen. Die wichtigste davon ist, ob MSD den Ärzten und Wissenschaftlern zu jedem Zeitpunkt wirklich alle vorhandenen Informationen, die für uns Ärzte für eine sorgfältige und verantwortliche Bewertung des Nutzen-Risiko-Profils von Vioxx erforderlich gewesen wären, unmittelbar und ungefiltert zugänglich gemacht hat, oder ob sicherheitsrelevante Daten zurückgehalten oder erst verzögert und bruchstückhaft weitergegeben wurden.
Zumindest wurde von Seiten MSD erst kürzlich noch versucht, einen spanischen Wissenschaftler per Gerichtsbeschluß mundtot zu machen, der in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift auf ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko unter Vioxx hingewiesen und sich kritisch mit der Substanz auseinandergesetzt hatte (rheuma-online hatte darüber ausführlich berichtet und bereits seinerzeit diesem unschönen Ereignis ein Editorial gewidmet).
Irritierend wirkt auch, warum die sicherheitsrelevanten Daten aus der APPROVe-Studie erst jetzt bekannt geben wurden.
Wenn man richtig rechnet und wenn bei dieser Rechenaufgabe kein logischer Fehler vorliegt, wurde die APPROVe-Studie im Jahre 2000 begonnen. Nach Angaben von MSD zeigte sich eine Zunahme des kardiovaskulären Risikos nach 18 Monaten, d.h. gerechnet vom Beginn der Rekrutierung der ersten Patienten im Laufe des Jahres 2002. Angesichts der enormen Studiengröße mit 2.600 Patienten und der damit verbundenen statistischen Power dürfte man nicht völlig daneben liegen, wenn die ersten Trends, die dann später endgültig in einer Analyse der 3-Jahres-Daten bestätigt wurden, schon im Laufe des Jahres 2003 zu erkennen gewesen wären. Und zwischen dem Jahr 2003 und dem Herbst 2004 liegt nun einmal ein ganz beträchtlicher Zeitraum.
Selbst wenn man unterstellt, daß die endgültige statistische Analyse der Studie tatsächlich erst jetzt vorlag, hätte sich ein wirklich verantwortliches Verhalten eines pharmazeutischen Herstellers darin gezeigt, auch die mit hoher Wahrscheinlichkeit vorher schon vorhandenen Trends in Richtung eines erhöhten kardiovaskulären Risikos ab dem 18. Studienmonat sofort und offen zu kommunizieren, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der seit der VIGOR-Studie zunehmend aufkommenden wissenschaftlichen Diskussion um genau diese Frage.
Ich persönlich darf dankbar sein, daß, so weit ich es überblicken kann, meine Patienten unter dieser zurückhaltenden Informationspolitik von MSD nicht gelitten haben und ihnen unter der Einnahme von Vioxx, auch über längere Zeiträume, z.T. auch regelmäßig über mehr als 3 Jahre und in höheren Dosierungen als 25 mg pro Tag, nichts Gefährliches passiert ist. Zumindest kann ich mich bei meinen Patienten, die ich dauerhaft und kontinuierlich betreue, nicht an ein einziges ernsthaftes kardiovaskuläres Ereignis erinnern, das ich in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Einnahme von Vioxx bringen könnte.
Viele Patienten, denen Vioxx sehr gut geholfen hat und die erstmals einen cortisonfreien Entzündungshemmer zur Verfügung hatten, der bei ihnen nicht nur exzellent und anhaltend gewirkt hat, sondern auch vom Magen- und Darmtrakt her gut vertragen wurde, zeigen für die Entscheidung des Herstellers, das Präparat vom Markt zu nehmen, wenig Verständnis. Wie die Süddeutsche Zeitung schreibt, haben es selbst erfahrene Apotheker selten erlebt, daß wütende und verstörte Kunden nicht einsehen wollten, daß ein Medikament vom Markt genommen wird, das ihnen doch so gut geholfen hat.
Glücklicherweise gibt es Alternativen. Nachdem Vioxx als Marktführer nun von heute auf morgen nicht mehr präsent ist, wird sich die Konkurrenz freuen. Aber auch MSD steht nicht mit leeren Händen da. Eine pikante Note beinhaltet der Zeitpunkt der Bekanntgabe, Vioxx vom Markt zu nehmen, insofern, als MSD selber mit Arcoxia ein Konkurrenzprodukt zu Vioxx entwickelt hat, das seit einigen Tagen in Deutschland zugelassen und in den Apotheken erhältlich ist. Und weitere COX-2-Hemmer stehen in den Startlöchern.
So werden wir auch weiterhin und zukünftig Substanzen zur Verfügung haben, die Rheuma und Schmerz wirksam bekämpfen, den Magen und Darm in Ruhe lassen und – hoffentlich – nicht mit dem erhöhten Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle einhergehen, das nun – zumindest bei der längerfristigen Behandlung von Patienten mit Dickdarm-Tumoren – für Vioxx identifiziert worden ist.
Welche Alternative für den einzelnen Patienten die richtige ist, muß für jeden Einzelfall sorgfältig überdacht und auch unter Abwägung der neuen Erkenntnisse und unter Berücksichtigung von möglichen Zweitkrankheiten und Risikofaktoren individuell entschieden werden.
Eine wesentliche Erkenntnis sollten wir aber alle tief in unser Gedächtnis eingravieren: Medikamente, die zugleich hochwirksam und vollkommen harmlos sind, gibt es nicht. Eigentlich lernt das ein Medizinstudent schon ganz früh in seiner klinischen Ausbildung. Dies kann aber nicht bedeuten, eingreifende und gefährliche Krankheiten zukünftig nur noch mit unwirksamen Substanzen zu behandeln, um mögliche Nebenwirkungen zu vermeiden.
Wichtig ist, bei einer Therapieauswahl, Therapieentscheidung und Therapieempfehlung die möglichen Nebenwirkungen und Risiken zu kennen, Risikoprofile und Risikopatienten im Vorfeld zu identifizieren und die Therapie regelmäßig und fach- und sachgerecht im Verlauf zu überwachen. Damit lassen sich Risiken zumindest begrenzen und verantwortlich kontrollieren.
Priv. Doz. Dr. med. H.E. Langer
Zu dieser Nachricht haben wir auch ein Editorial geschrieben: VIOXX®, die weltweite Rücknahme vom Markt und die „freiwillige“ Vernichtung von 27 Mrd. US-Dollar Börsenwert: Was dürfen wir glauben? Und was ist es, was wir nicht wissen? Ein Kommentar zum plötzlichen und unerwarteten Ableben von VIOXX®, dem ehemaligen Shooting-Star und Blockbuster im hochumkämpften Pharmamarkt von Arthritis, Arthrose und Schmerz (http://rheuma-online.de/editorial/38.html)